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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Alten. Heute wählten nun die in der Mehrzahl befindlichen reformirten Ge-
meindeglieder anstandslos den lutherischen Ortsprediger; morgen wurden sie
von der Wahl eines Kirchenvorstehers als "Andersgläubige" ausgeschlossen. --
Aber solche geradezu lächerliche Widersprüche beirrten die streng lutherische
Partei in der Kirchenregierung nicht; die Zustände in Ostfriesland wurden
mit einem, bald zum "geflügelten Worte" werdenden geistreich sein sollenden
Ausdruck dahin gekennzeichnet, "sie ruhten weder auf Union, noch auf Kon¬
fession, sondern auf Confusion." Es wurde geradezu betont, es sei ein Segen,
daß der alte Confessionsfrieden einmal gründlich gestört und das nöthige
confessionelle Bewußtsein wieder scharf geweckt werde.

Es sind wenige Mißgriffe der hannoverschen Regierung begangen worden,
die das allgemeine Gefühl so verletzt und die Ostfriesen so gründlich verbittert
haben, wie diese leidige Entzündung des kirchlichen Haders in Bezug auf die
Kirchenvorstandswahlen. Und diese, namentlich auch durch den damaligen
Auricher Consistorialpräsidenten, späteren Minister Bacmeister besonders be¬
förderte altlutherische Agitation, die natürlich auch auf das Schulgebiet hinüber-
streifte, hat denn auch 1866 ihre Früchte getragen. Die reformirte Geist¬
lichkeit war es zuerst, die ihren Einfluß für Lostrennung von Hannover
aufbot und der preußischen Regierung entgegenjubelte, und auch unter der
lutherischen Geistlichkeit -- mit Ausnahme der Hyperorthodoxen -- herrschte
derselbe Geist; weigerten sich doch lutherische Geistliche schon lange vor der
Annexion, das Kirchengebet für König Georg zu sprechen!

Aber in Ostfriesland zeigte auch der oben angeführte §, 13, wie zwei¬
schneidig jede scharfe Waffe ist. Hier herrscht nämlich in enger Verbindung
mit der strengen Lehre der holländischen Reformirten von der sogenannten
Gnadenwahl, eine eigenthümlich ernste, ja düstre Auffassung des Abendmahls
und namentlich eine Scheu vor dessen unwürdigem Genusse. Es gibt eine
Menge Gemeinden, in denen im ganzen Jahre kaum zwei bis drei Personen
das Abendmahl nehmen; gerade die ernstesten und kirchlichsten Männer
können sich häufig -- obwohl sie keinen Sonntag den Gottesdienst versäu¬
men und sonst in regster Weise kirchlichen Sinn bethätigen -- erst auf dem
Todtenbett entschließen, das Abendmahl zu genießen. Damit hängt auch die
Sitte zusammen, daß die Konfirmation, welche sonst nach vollendetem 14ten
Lebensjahr Statt zu finden pflegt, hier meist erst in reiferem Alter erfolgt.
Gesuche an das Consistorium, behufs der Verheirathung von dem vorgängigen
Erforderniß der Confirmation dispensirt zu werden, sind in Ostfriesland etwas
ganz gewöhnliches. Ein Theil der ausgehobenen Soldaten ist regelmäßig
noch nicht confirmirt. Dies ist eben, wie gesagt, hauptsächlich eine Folge der
in der Volksanschauung begründeten tiefernsten Scheu vor dem Abendmahl. --
Nun wurde plötzlich als Bedingung des kirchlichen Wahlrechts regelmäßige


Alten. Heute wählten nun die in der Mehrzahl befindlichen reformirten Ge-
meindeglieder anstandslos den lutherischen Ortsprediger; morgen wurden sie
von der Wahl eines Kirchenvorstehers als „Andersgläubige" ausgeschlossen. —
Aber solche geradezu lächerliche Widersprüche beirrten die streng lutherische
Partei in der Kirchenregierung nicht; die Zustände in Ostfriesland wurden
mit einem, bald zum „geflügelten Worte" werdenden geistreich sein sollenden
Ausdruck dahin gekennzeichnet, „sie ruhten weder auf Union, noch auf Kon¬
fession, sondern auf Confusion." Es wurde geradezu betont, es sei ein Segen,
daß der alte Confessionsfrieden einmal gründlich gestört und das nöthige
confessionelle Bewußtsein wieder scharf geweckt werde.

Es sind wenige Mißgriffe der hannoverschen Regierung begangen worden,
die das allgemeine Gefühl so verletzt und die Ostfriesen so gründlich verbittert
haben, wie diese leidige Entzündung des kirchlichen Haders in Bezug auf die
Kirchenvorstandswahlen. Und diese, namentlich auch durch den damaligen
Auricher Consistorialpräsidenten, späteren Minister Bacmeister besonders be¬
förderte altlutherische Agitation, die natürlich auch auf das Schulgebiet hinüber-
streifte, hat denn auch 1866 ihre Früchte getragen. Die reformirte Geist¬
lichkeit war es zuerst, die ihren Einfluß für Lostrennung von Hannover
aufbot und der preußischen Regierung entgegenjubelte, und auch unter der
lutherischen Geistlichkeit — mit Ausnahme der Hyperorthodoxen — herrschte
derselbe Geist; weigerten sich doch lutherische Geistliche schon lange vor der
Annexion, das Kirchengebet für König Georg zu sprechen!

Aber in Ostfriesland zeigte auch der oben angeführte §, 13, wie zwei¬
schneidig jede scharfe Waffe ist. Hier herrscht nämlich in enger Verbindung
mit der strengen Lehre der holländischen Reformirten von der sogenannten
Gnadenwahl, eine eigenthümlich ernste, ja düstre Auffassung des Abendmahls
und namentlich eine Scheu vor dessen unwürdigem Genusse. Es gibt eine
Menge Gemeinden, in denen im ganzen Jahre kaum zwei bis drei Personen
das Abendmahl nehmen; gerade die ernstesten und kirchlichsten Männer
können sich häufig — obwohl sie keinen Sonntag den Gottesdienst versäu¬
men und sonst in regster Weise kirchlichen Sinn bethätigen — erst auf dem
Todtenbett entschließen, das Abendmahl zu genießen. Damit hängt auch die
Sitte zusammen, daß die Konfirmation, welche sonst nach vollendetem 14ten
Lebensjahr Statt zu finden pflegt, hier meist erst in reiferem Alter erfolgt.
Gesuche an das Consistorium, behufs der Verheirathung von dem vorgängigen
Erforderniß der Confirmation dispensirt zu werden, sind in Ostfriesland etwas
ganz gewöhnliches. Ein Theil der ausgehobenen Soldaten ist regelmäßig
noch nicht confirmirt. Dies ist eben, wie gesagt, hauptsächlich eine Folge der
in der Volksanschauung begründeten tiefernsten Scheu vor dem Abendmahl. —
Nun wurde plötzlich als Bedingung des kirchlichen Wahlrechts regelmäßige


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[0419] Alten. Heute wählten nun die in der Mehrzahl befindlichen reformirten Ge- meindeglieder anstandslos den lutherischen Ortsprediger; morgen wurden sie von der Wahl eines Kirchenvorstehers als „Andersgläubige" ausgeschlossen. — Aber solche geradezu lächerliche Widersprüche beirrten die streng lutherische Partei in der Kirchenregierung nicht; die Zustände in Ostfriesland wurden mit einem, bald zum „geflügelten Worte" werdenden geistreich sein sollenden Ausdruck dahin gekennzeichnet, „sie ruhten weder auf Union, noch auf Kon¬ fession, sondern auf Confusion." Es wurde geradezu betont, es sei ein Segen, daß der alte Confessionsfrieden einmal gründlich gestört und das nöthige confessionelle Bewußtsein wieder scharf geweckt werde. Es sind wenige Mißgriffe der hannoverschen Regierung begangen worden, die das allgemeine Gefühl so verletzt und die Ostfriesen so gründlich verbittert haben, wie diese leidige Entzündung des kirchlichen Haders in Bezug auf die Kirchenvorstandswahlen. Und diese, namentlich auch durch den damaligen Auricher Consistorialpräsidenten, späteren Minister Bacmeister besonders be¬ förderte altlutherische Agitation, die natürlich auch auf das Schulgebiet hinüber- streifte, hat denn auch 1866 ihre Früchte getragen. Die reformirte Geist¬ lichkeit war es zuerst, die ihren Einfluß für Lostrennung von Hannover aufbot und der preußischen Regierung entgegenjubelte, und auch unter der lutherischen Geistlichkeit — mit Ausnahme der Hyperorthodoxen — herrschte derselbe Geist; weigerten sich doch lutherische Geistliche schon lange vor der Annexion, das Kirchengebet für König Georg zu sprechen! Aber in Ostfriesland zeigte auch der oben angeführte §, 13, wie zwei¬ schneidig jede scharfe Waffe ist. Hier herrscht nämlich in enger Verbindung mit der strengen Lehre der holländischen Reformirten von der sogenannten Gnadenwahl, eine eigenthümlich ernste, ja düstre Auffassung des Abendmahls und namentlich eine Scheu vor dessen unwürdigem Genusse. Es gibt eine Menge Gemeinden, in denen im ganzen Jahre kaum zwei bis drei Personen das Abendmahl nehmen; gerade die ernstesten und kirchlichsten Männer können sich häufig — obwohl sie keinen Sonntag den Gottesdienst versäu¬ men und sonst in regster Weise kirchlichen Sinn bethätigen — erst auf dem Todtenbett entschließen, das Abendmahl zu genießen. Damit hängt auch die Sitte zusammen, daß die Konfirmation, welche sonst nach vollendetem 14ten Lebensjahr Statt zu finden pflegt, hier meist erst in reiferem Alter erfolgt. Gesuche an das Consistorium, behufs der Verheirathung von dem vorgängigen Erforderniß der Confirmation dispensirt zu werden, sind in Ostfriesland etwas ganz gewöhnliches. Ein Theil der ausgehobenen Soldaten ist regelmäßig noch nicht confirmirt. Dies ist eben, wie gesagt, hauptsächlich eine Folge der in der Volksanschauung begründeten tiefernsten Scheu vor dem Abendmahl. — Nun wurde plötzlich als Bedingung des kirchlichen Wahlrechts regelmäßige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/419>, abgerufen am 24.07.2024.