Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und ihrer sachlichen Präponderanz im Strafverfahren; man läßt die Gerichte
bestehen, wie sie sind, mit der ganzen bisherigen Patronage des Justizmini¬
steriums, dem ganzen Commissions- und Deputationswesen in den Collegien
und glaubt ernsthaft, durch die erweiterte Schein-Jury -- denn einen besse¬
ren Namen verdient das deutsche Schwurgericht kaum -- ein Bollwerk gegen
die Willkür in der Gerichtsverfassung aufgerichtet zu haben!

Die gewöhnlichen Dutzend-Reformer von heute pflegen freilich derarti¬
gen Gesichtspunkten gegenüber etwa folgendergestalt zu raisonniren. Das
Beste, sagen sie, sei ja meist der Feind des Guten; könne man nicht gleich
eine radicale Reform der Gerichtsverfassung und eine fundamentale Neu¬
begründung der Jury erreichen, so sei um deshalb doch das Verlangen nicht
zu mißachten, dem absoluten Staat ein wichtiges Stück seines alten Verfol¬
gungsapparates zu entringen und dasselbe durch Verweisung an die Ge¬
schworenen unschädlich zu machen; mindestens würde dadurch die Gefahr un¬
gerechter Verurtheilungen wegen angeblicher politischer Vergehen durch par¬
teiisch zusammengesetzte Gerichte aufs Erheblichste abgeschwächt. Dieselbe
ungesunde Vorstellung, in der Jury wesentlich und berufsmäßig ein Schutz¬
mittel gegen ungerechte Verurtheilungen zu erblicken, ihre Hauptaufgabe in
mannhaften Freisprechungen zu suchen, beherrschten die vormärzliche Literatur
ziemlich vollständig. Es läßt sich psychologisch gegen diese Betrachtungs¬
weise nicht viel sagen. Der deutsche Liberalismus ist so ausschließlich im
Kampfe mit dem absoluten Staat groß geworden, daß sein ganzes geistiges
Rüstzeug aus Kritik und Polemik zusammengesetzt ist, und all' seine Ideen
mehr von der Antithese, als von positiv schöpferischen Gedanken belebt sind.
Das Ideal eines liberalen Volksvertreters wird in gesinnungstüchtiger Oppo¬
sition gegen die Staatsregierung und in ausgedehntesten Veto gegen ihre
Maßnahmen gesucht, das eines Geschworenen in entsprechender Opposition
und Negation gegen die staatliche Gerichtsbarkeit. Dem Staate möglichst
wenig bieten an Geld- und verantwortlichen Ehrendiensten in Stadt und
Gemeinde, ihm aber möglichst viel zusetzen durch Dreinreden und unverant¬
wortliches Abstimmen, das ist ja noch immer zum besten Theil die Freiheit,
die des Deutschen Herz erfüllt. Aber wenn auch nur diesen kümmerlichen
und häßlichen Nothbehelf gegen parteiische Verurtheilungen in politischen
Processen das Schwurgericht in seiner bisherigen Gestalt darstellen könnte!
Wenn es nur nicht auch diesem Bedürfniß jede Befriedigung versagte!
Welche Gewähr bietet denn das heutige Schwurgericht dafür, daß die poli¬
tische Unabhängigkeit auf der Bank der Geschworenen den sicheren Platz ein-
nimmt, den sie aus der Richterbank nicht mehr finden soll? Dasselbe Gou¬
vernement, das einmal entschlossen ist, seine Gegner durch politische Verfol-


und ihrer sachlichen Präponderanz im Strafverfahren; man läßt die Gerichte
bestehen, wie sie sind, mit der ganzen bisherigen Patronage des Justizmini¬
steriums, dem ganzen Commissions- und Deputationswesen in den Collegien
und glaubt ernsthaft, durch die erweiterte Schein-Jury — denn einen besse¬
ren Namen verdient das deutsche Schwurgericht kaum — ein Bollwerk gegen
die Willkür in der Gerichtsverfassung aufgerichtet zu haben!

Die gewöhnlichen Dutzend-Reformer von heute pflegen freilich derarti¬
gen Gesichtspunkten gegenüber etwa folgendergestalt zu raisonniren. Das
Beste, sagen sie, sei ja meist der Feind des Guten; könne man nicht gleich
eine radicale Reform der Gerichtsverfassung und eine fundamentale Neu¬
begründung der Jury erreichen, so sei um deshalb doch das Verlangen nicht
zu mißachten, dem absoluten Staat ein wichtiges Stück seines alten Verfol¬
gungsapparates zu entringen und dasselbe durch Verweisung an die Ge¬
schworenen unschädlich zu machen; mindestens würde dadurch die Gefahr un¬
gerechter Verurtheilungen wegen angeblicher politischer Vergehen durch par¬
teiisch zusammengesetzte Gerichte aufs Erheblichste abgeschwächt. Dieselbe
ungesunde Vorstellung, in der Jury wesentlich und berufsmäßig ein Schutz¬
mittel gegen ungerechte Verurtheilungen zu erblicken, ihre Hauptaufgabe in
mannhaften Freisprechungen zu suchen, beherrschten die vormärzliche Literatur
ziemlich vollständig. Es läßt sich psychologisch gegen diese Betrachtungs¬
weise nicht viel sagen. Der deutsche Liberalismus ist so ausschließlich im
Kampfe mit dem absoluten Staat groß geworden, daß sein ganzes geistiges
Rüstzeug aus Kritik und Polemik zusammengesetzt ist, und all' seine Ideen
mehr von der Antithese, als von positiv schöpferischen Gedanken belebt sind.
Das Ideal eines liberalen Volksvertreters wird in gesinnungstüchtiger Oppo¬
sition gegen die Staatsregierung und in ausgedehntesten Veto gegen ihre
Maßnahmen gesucht, das eines Geschworenen in entsprechender Opposition
und Negation gegen die staatliche Gerichtsbarkeit. Dem Staate möglichst
wenig bieten an Geld- und verantwortlichen Ehrendiensten in Stadt und
Gemeinde, ihm aber möglichst viel zusetzen durch Dreinreden und unverant¬
wortliches Abstimmen, das ist ja noch immer zum besten Theil die Freiheit,
die des Deutschen Herz erfüllt. Aber wenn auch nur diesen kümmerlichen
und häßlichen Nothbehelf gegen parteiische Verurtheilungen in politischen
Processen das Schwurgericht in seiner bisherigen Gestalt darstellen könnte!
Wenn es nur nicht auch diesem Bedürfniß jede Befriedigung versagte!
Welche Gewähr bietet denn das heutige Schwurgericht dafür, daß die poli¬
tische Unabhängigkeit auf der Bank der Geschworenen den sicheren Platz ein-
nimmt, den sie aus der Richterbank nicht mehr finden soll? Dasselbe Gou¬
vernement, das einmal entschlossen ist, seine Gegner durch politische Verfol-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121101"/>
          <p xml:id="ID_1229" prev="#ID_1228"> und ihrer sachlichen Präponderanz im Strafverfahren; man läßt die Gerichte<lb/>
bestehen, wie sie sind, mit der ganzen bisherigen Patronage des Justizmini¬<lb/>
steriums, dem ganzen Commissions- und Deputationswesen in den Collegien<lb/>
und glaubt ernsthaft, durch die erweiterte Schein-Jury &#x2014; denn einen besse¬<lb/>
ren Namen verdient das deutsche Schwurgericht kaum &#x2014; ein Bollwerk gegen<lb/>
die Willkür in der Gerichtsverfassung aufgerichtet zu haben!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1230" next="#ID_1231"> Die gewöhnlichen Dutzend-Reformer von heute pflegen freilich derarti¬<lb/>
gen Gesichtspunkten gegenüber etwa folgendergestalt zu raisonniren. Das<lb/>
Beste, sagen sie, sei ja meist der Feind des Guten; könne man nicht gleich<lb/>
eine radicale Reform der Gerichtsverfassung und eine fundamentale Neu¬<lb/>
begründung der Jury erreichen, so sei um deshalb doch das Verlangen nicht<lb/>
zu mißachten, dem absoluten Staat ein wichtiges Stück seines alten Verfol¬<lb/>
gungsapparates zu entringen und dasselbe durch Verweisung an die Ge¬<lb/>
schworenen unschädlich zu machen; mindestens würde dadurch die Gefahr un¬<lb/>
gerechter Verurtheilungen wegen angeblicher politischer Vergehen durch par¬<lb/>
teiisch zusammengesetzte Gerichte aufs Erheblichste abgeschwächt. Dieselbe<lb/>
ungesunde Vorstellung, in der Jury wesentlich und berufsmäßig ein Schutz¬<lb/>
mittel gegen ungerechte Verurtheilungen zu erblicken, ihre Hauptaufgabe in<lb/>
mannhaften Freisprechungen zu suchen, beherrschten die vormärzliche Literatur<lb/>
ziemlich vollständig. Es läßt sich psychologisch gegen diese Betrachtungs¬<lb/>
weise nicht viel sagen. Der deutsche Liberalismus ist so ausschließlich im<lb/>
Kampfe mit dem absoluten Staat groß geworden, daß sein ganzes geistiges<lb/>
Rüstzeug aus Kritik und Polemik zusammengesetzt ist, und all' seine Ideen<lb/>
mehr von der Antithese, als von positiv schöpferischen Gedanken belebt sind.<lb/>
Das Ideal eines liberalen Volksvertreters wird in gesinnungstüchtiger Oppo¬<lb/>
sition gegen die Staatsregierung und in ausgedehntesten Veto gegen ihre<lb/>
Maßnahmen gesucht, das eines Geschworenen in entsprechender Opposition<lb/>
und Negation gegen die staatliche Gerichtsbarkeit. Dem Staate möglichst<lb/>
wenig bieten an Geld- und verantwortlichen Ehrendiensten in Stadt und<lb/>
Gemeinde, ihm aber möglichst viel zusetzen durch Dreinreden und unverant¬<lb/>
wortliches Abstimmen, das ist ja noch immer zum besten Theil die Freiheit,<lb/>
die des Deutschen Herz erfüllt. Aber wenn auch nur diesen kümmerlichen<lb/>
und häßlichen Nothbehelf gegen parteiische Verurtheilungen in politischen<lb/>
Processen das Schwurgericht in seiner bisherigen Gestalt darstellen könnte!<lb/>
Wenn es nur nicht auch diesem Bedürfniß jede Befriedigung versagte!<lb/>
Welche Gewähr bietet denn das heutige Schwurgericht dafür, daß die poli¬<lb/>
tische Unabhängigkeit auf der Bank der Geschworenen den sicheren Platz ein-<lb/>
nimmt, den sie aus der Richterbank nicht mehr finden soll? Dasselbe Gou¬<lb/>
vernement, das einmal entschlossen ist, seine Gegner durch politische Verfol-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0414] und ihrer sachlichen Präponderanz im Strafverfahren; man läßt die Gerichte bestehen, wie sie sind, mit der ganzen bisherigen Patronage des Justizmini¬ steriums, dem ganzen Commissions- und Deputationswesen in den Collegien und glaubt ernsthaft, durch die erweiterte Schein-Jury — denn einen besse¬ ren Namen verdient das deutsche Schwurgericht kaum — ein Bollwerk gegen die Willkür in der Gerichtsverfassung aufgerichtet zu haben! Die gewöhnlichen Dutzend-Reformer von heute pflegen freilich derarti¬ gen Gesichtspunkten gegenüber etwa folgendergestalt zu raisonniren. Das Beste, sagen sie, sei ja meist der Feind des Guten; könne man nicht gleich eine radicale Reform der Gerichtsverfassung und eine fundamentale Neu¬ begründung der Jury erreichen, so sei um deshalb doch das Verlangen nicht zu mißachten, dem absoluten Staat ein wichtiges Stück seines alten Verfol¬ gungsapparates zu entringen und dasselbe durch Verweisung an die Ge¬ schworenen unschädlich zu machen; mindestens würde dadurch die Gefahr un¬ gerechter Verurtheilungen wegen angeblicher politischer Vergehen durch par¬ teiisch zusammengesetzte Gerichte aufs Erheblichste abgeschwächt. Dieselbe ungesunde Vorstellung, in der Jury wesentlich und berufsmäßig ein Schutz¬ mittel gegen ungerechte Verurtheilungen zu erblicken, ihre Hauptaufgabe in mannhaften Freisprechungen zu suchen, beherrschten die vormärzliche Literatur ziemlich vollständig. Es läßt sich psychologisch gegen diese Betrachtungs¬ weise nicht viel sagen. Der deutsche Liberalismus ist so ausschließlich im Kampfe mit dem absoluten Staat groß geworden, daß sein ganzes geistiges Rüstzeug aus Kritik und Polemik zusammengesetzt ist, und all' seine Ideen mehr von der Antithese, als von positiv schöpferischen Gedanken belebt sind. Das Ideal eines liberalen Volksvertreters wird in gesinnungstüchtiger Oppo¬ sition gegen die Staatsregierung und in ausgedehntesten Veto gegen ihre Maßnahmen gesucht, das eines Geschworenen in entsprechender Opposition und Negation gegen die staatliche Gerichtsbarkeit. Dem Staate möglichst wenig bieten an Geld- und verantwortlichen Ehrendiensten in Stadt und Gemeinde, ihm aber möglichst viel zusetzen durch Dreinreden und unverant¬ wortliches Abstimmen, das ist ja noch immer zum besten Theil die Freiheit, die des Deutschen Herz erfüllt. Aber wenn auch nur diesen kümmerlichen und häßlichen Nothbehelf gegen parteiische Verurtheilungen in politischen Processen das Schwurgericht in seiner bisherigen Gestalt darstellen könnte! Wenn es nur nicht auch diesem Bedürfniß jede Befriedigung versagte! Welche Gewähr bietet denn das heutige Schwurgericht dafür, daß die poli¬ tische Unabhängigkeit auf der Bank der Geschworenen den sicheren Platz ein- nimmt, den sie aus der Richterbank nicht mehr finden soll? Dasselbe Gou¬ vernement, das einmal entschlossen ist, seine Gegner durch politische Verfol-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/414
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/414>, abgerufen am 04.07.2024.