Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gerichts-Fragestellungen eröffnen. Wieviel Judicate und gelehrte Excurse
würden sich in Theorie und Praxis daran abquälen, die Begriffe "Gefähr¬
dung des öffentlichen Friedens", "Classe von Staatsangehörigen", "Einrich¬
tungen des Staates", "Anordnungen der Obrigkeit" in ihrer überwiegend
thatsächlichen oder rechtlichen Natur zu analysiren. Jene Entscheidungen des
Preußischen Obertribunals als Cassationshof, daß die "Kreuzzeitungspartei"
eine Classe von Staatsangehörigen darstelle, welche durch den §, 100, daß
"die Politik der Staatsregierung" der Inbegriff von allerlei Anordnungen der
Obrigkeit enthalte, welche durch §. 101. des Strafgesetzbuchs besonders vor
Verunglimpfungen geschützt seien, können schon einen kleinen Vorgeschmack
der hier möglichen juristischen Casuistik gewähren. -- Nein! so lange wir in
der deutschen Gerichtsverfassung nicht vollständig gebrochen haben mit dem
ganzen bisherigen System der Fragestellung vor den Geschworenen, so lange
wir nicht vollständig gebrochen hoben in der deutschen Strafgesetzgebung mit
den bösen Geistern der bonapartistisch - französischen Criminalpolitik und dem
ganzen Wust jener monströsen polizeilichen Willkürparagraphen, welche die
Furcht vor der revolutionairen Gesinnung erfunden hat, wäre ^es Schade um
das ehrwürdige Institut der Jury, es ohne Noth und Nutzen den Frivoli¬
täten unserer politischen Processe preiszugeben.

Denn dadurch allein ist die Noth, wie der Nutzen schlechterdings nicht
zu erweisen, daß man auf die politische Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft
und der Gerichtscommissionen von der Regierung oder Regierungspartei hin¬
weist, welche eine unparteiische Rechtspflege nicht gewährleisten. Die Schäden
unserer Justizorganisation liegen schreiend zu Tage, sie haben sich tiefer und
umfangreicher in den Staatskörper eingefressen, als es ihr oberflächliches
Hervortreten an den hier angedeuteten Stellen erkennen läßt. Gneist's vor¬
treffliche Schrift über die freie Advocatur hat sie noch unlängst auch den Un¬
eingeweihten blosgelegt. Nun kann es sehr wohl dahingestellt bleiben, ob
gerade das von Gneist in vielleicht zu potntirter Weise vorgeschlagene Mittel,
von der Seite der Advocatur aus dem Richterstande neue Kraft zu ver¬
leihen und die unnatürliche Herrschaft des Justizministeriums zu beseitigen, die
gehoffte Heilkraft ausüben würde. Unbestreitbar aber ist, daß wir in diesem,
wie in jedem Falle organischer Reformen der umfassendsten Art be¬
dürfen und daß unserer Justizorganisation platterdings gar nicht geholfen ist
durch Aufsetzen eines beliebigen bunten Lappens aus der Rumpelkammer des
vormärzlichen Liberalismus. Darauf läuft im Grunde die Verweisung der
Politischen Vergehen an die Schwurgerichte hinaus. Man läßt die Staats¬
anwaltschaft bestehen, wie sie ist, mit ihrer unbedingten Unterordnung unter
die Botmäßigkeit der Verwaltungschefs, ihrer bureaukratischen Gliederung


gerichts-Fragestellungen eröffnen. Wieviel Judicate und gelehrte Excurse
würden sich in Theorie und Praxis daran abquälen, die Begriffe „Gefähr¬
dung des öffentlichen Friedens", „Classe von Staatsangehörigen", „Einrich¬
tungen des Staates", „Anordnungen der Obrigkeit" in ihrer überwiegend
thatsächlichen oder rechtlichen Natur zu analysiren. Jene Entscheidungen des
Preußischen Obertribunals als Cassationshof, daß die „Kreuzzeitungspartei"
eine Classe von Staatsangehörigen darstelle, welche durch den §, 100, daß
„die Politik der Staatsregierung" der Inbegriff von allerlei Anordnungen der
Obrigkeit enthalte, welche durch §. 101. des Strafgesetzbuchs besonders vor
Verunglimpfungen geschützt seien, können schon einen kleinen Vorgeschmack
der hier möglichen juristischen Casuistik gewähren. — Nein! so lange wir in
der deutschen Gerichtsverfassung nicht vollständig gebrochen haben mit dem
ganzen bisherigen System der Fragestellung vor den Geschworenen, so lange
wir nicht vollständig gebrochen hoben in der deutschen Strafgesetzgebung mit
den bösen Geistern der bonapartistisch - französischen Criminalpolitik und dem
ganzen Wust jener monströsen polizeilichen Willkürparagraphen, welche die
Furcht vor der revolutionairen Gesinnung erfunden hat, wäre ^es Schade um
das ehrwürdige Institut der Jury, es ohne Noth und Nutzen den Frivoli¬
täten unserer politischen Processe preiszugeben.

Denn dadurch allein ist die Noth, wie der Nutzen schlechterdings nicht
zu erweisen, daß man auf die politische Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft
und der Gerichtscommissionen von der Regierung oder Regierungspartei hin¬
weist, welche eine unparteiische Rechtspflege nicht gewährleisten. Die Schäden
unserer Justizorganisation liegen schreiend zu Tage, sie haben sich tiefer und
umfangreicher in den Staatskörper eingefressen, als es ihr oberflächliches
Hervortreten an den hier angedeuteten Stellen erkennen läßt. Gneist's vor¬
treffliche Schrift über die freie Advocatur hat sie noch unlängst auch den Un¬
eingeweihten blosgelegt. Nun kann es sehr wohl dahingestellt bleiben, ob
gerade das von Gneist in vielleicht zu potntirter Weise vorgeschlagene Mittel,
von der Seite der Advocatur aus dem Richterstande neue Kraft zu ver¬
leihen und die unnatürliche Herrschaft des Justizministeriums zu beseitigen, die
gehoffte Heilkraft ausüben würde. Unbestreitbar aber ist, daß wir in diesem,
wie in jedem Falle organischer Reformen der umfassendsten Art be¬
dürfen und daß unserer Justizorganisation platterdings gar nicht geholfen ist
durch Aufsetzen eines beliebigen bunten Lappens aus der Rumpelkammer des
vormärzlichen Liberalismus. Darauf läuft im Grunde die Verweisung der
Politischen Vergehen an die Schwurgerichte hinaus. Man läßt die Staats¬
anwaltschaft bestehen, wie sie ist, mit ihrer unbedingten Unterordnung unter
die Botmäßigkeit der Verwaltungschefs, ihrer bureaukratischen Gliederung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121100"/>
          <p xml:id="ID_1227" prev="#ID_1226"> gerichts-Fragestellungen eröffnen. Wieviel Judicate und gelehrte Excurse<lb/>
würden sich in Theorie und Praxis daran abquälen, die Begriffe &#x201E;Gefähr¬<lb/>
dung des öffentlichen Friedens", &#x201E;Classe von Staatsangehörigen", &#x201E;Einrich¬<lb/>
tungen des Staates", &#x201E;Anordnungen der Obrigkeit" in ihrer überwiegend<lb/>
thatsächlichen oder rechtlichen Natur zu analysiren. Jene Entscheidungen des<lb/>
Preußischen Obertribunals als Cassationshof, daß die &#x201E;Kreuzzeitungspartei"<lb/>
eine Classe von Staatsangehörigen darstelle, welche durch den §, 100, daß<lb/>
&#x201E;die Politik der Staatsregierung" der Inbegriff von allerlei Anordnungen der<lb/>
Obrigkeit enthalte, welche durch §. 101. des Strafgesetzbuchs besonders vor<lb/>
Verunglimpfungen geschützt seien, können schon einen kleinen Vorgeschmack<lb/>
der hier möglichen juristischen Casuistik gewähren. &#x2014; Nein! so lange wir in<lb/>
der deutschen Gerichtsverfassung nicht vollständig gebrochen haben mit dem<lb/>
ganzen bisherigen System der Fragestellung vor den Geschworenen, so lange<lb/>
wir nicht vollständig gebrochen hoben in der deutschen Strafgesetzgebung mit<lb/>
den bösen Geistern der bonapartistisch - französischen Criminalpolitik und dem<lb/>
ganzen Wust jener monströsen polizeilichen Willkürparagraphen, welche die<lb/>
Furcht vor der revolutionairen Gesinnung erfunden hat, wäre ^es Schade um<lb/>
das ehrwürdige Institut der Jury, es ohne Noth und Nutzen den Frivoli¬<lb/>
täten unserer politischen Processe preiszugeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1228" next="#ID_1229"> Denn dadurch allein ist die Noth, wie der Nutzen schlechterdings nicht<lb/>
zu erweisen, daß man auf die politische Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft<lb/>
und der Gerichtscommissionen von der Regierung oder Regierungspartei hin¬<lb/>
weist, welche eine unparteiische Rechtspflege nicht gewährleisten. Die Schäden<lb/>
unserer Justizorganisation liegen schreiend zu Tage, sie haben sich tiefer und<lb/>
umfangreicher in den Staatskörper eingefressen, als es ihr oberflächliches<lb/>
Hervortreten an den hier angedeuteten Stellen erkennen läßt. Gneist's vor¬<lb/>
treffliche Schrift über die freie Advocatur hat sie noch unlängst auch den Un¬<lb/>
eingeweihten blosgelegt. Nun kann es sehr wohl dahingestellt bleiben, ob<lb/>
gerade das von Gneist in vielleicht zu potntirter Weise vorgeschlagene Mittel,<lb/>
von der Seite der Advocatur aus dem Richterstande neue Kraft zu ver¬<lb/>
leihen und die unnatürliche Herrschaft des Justizministeriums zu beseitigen, die<lb/>
gehoffte Heilkraft ausüben würde. Unbestreitbar aber ist, daß wir in diesem,<lb/>
wie in jedem Falle organischer Reformen der umfassendsten Art be¬<lb/>
dürfen und daß unserer Justizorganisation platterdings gar nicht geholfen ist<lb/>
durch Aufsetzen eines beliebigen bunten Lappens aus der Rumpelkammer des<lb/>
vormärzlichen Liberalismus. Darauf läuft im Grunde die Verweisung der<lb/>
Politischen Vergehen an die Schwurgerichte hinaus. Man läßt die Staats¬<lb/>
anwaltschaft bestehen, wie sie ist, mit ihrer unbedingten Unterordnung unter<lb/>
die Botmäßigkeit der Verwaltungschefs, ihrer bureaukratischen Gliederung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] gerichts-Fragestellungen eröffnen. Wieviel Judicate und gelehrte Excurse würden sich in Theorie und Praxis daran abquälen, die Begriffe „Gefähr¬ dung des öffentlichen Friedens", „Classe von Staatsangehörigen", „Einrich¬ tungen des Staates", „Anordnungen der Obrigkeit" in ihrer überwiegend thatsächlichen oder rechtlichen Natur zu analysiren. Jene Entscheidungen des Preußischen Obertribunals als Cassationshof, daß die „Kreuzzeitungspartei" eine Classe von Staatsangehörigen darstelle, welche durch den §, 100, daß „die Politik der Staatsregierung" der Inbegriff von allerlei Anordnungen der Obrigkeit enthalte, welche durch §. 101. des Strafgesetzbuchs besonders vor Verunglimpfungen geschützt seien, können schon einen kleinen Vorgeschmack der hier möglichen juristischen Casuistik gewähren. — Nein! so lange wir in der deutschen Gerichtsverfassung nicht vollständig gebrochen haben mit dem ganzen bisherigen System der Fragestellung vor den Geschworenen, so lange wir nicht vollständig gebrochen hoben in der deutschen Strafgesetzgebung mit den bösen Geistern der bonapartistisch - französischen Criminalpolitik und dem ganzen Wust jener monströsen polizeilichen Willkürparagraphen, welche die Furcht vor der revolutionairen Gesinnung erfunden hat, wäre ^es Schade um das ehrwürdige Institut der Jury, es ohne Noth und Nutzen den Frivoli¬ täten unserer politischen Processe preiszugeben. Denn dadurch allein ist die Noth, wie der Nutzen schlechterdings nicht zu erweisen, daß man auf die politische Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft und der Gerichtscommissionen von der Regierung oder Regierungspartei hin¬ weist, welche eine unparteiische Rechtspflege nicht gewährleisten. Die Schäden unserer Justizorganisation liegen schreiend zu Tage, sie haben sich tiefer und umfangreicher in den Staatskörper eingefressen, als es ihr oberflächliches Hervortreten an den hier angedeuteten Stellen erkennen läßt. Gneist's vor¬ treffliche Schrift über die freie Advocatur hat sie noch unlängst auch den Un¬ eingeweihten blosgelegt. Nun kann es sehr wohl dahingestellt bleiben, ob gerade das von Gneist in vielleicht zu potntirter Weise vorgeschlagene Mittel, von der Seite der Advocatur aus dem Richterstande neue Kraft zu ver¬ leihen und die unnatürliche Herrschaft des Justizministeriums zu beseitigen, die gehoffte Heilkraft ausüben würde. Unbestreitbar aber ist, daß wir in diesem, wie in jedem Falle organischer Reformen der umfassendsten Art be¬ dürfen und daß unserer Justizorganisation platterdings gar nicht geholfen ist durch Aufsetzen eines beliebigen bunten Lappens aus der Rumpelkammer des vormärzlichen Liberalismus. Darauf läuft im Grunde die Verweisung der Politischen Vergehen an die Schwurgerichte hinaus. Man läßt die Staats¬ anwaltschaft bestehen, wie sie ist, mit ihrer unbedingten Unterordnung unter die Botmäßigkeit der Verwaltungschefs, ihrer bureaukratischen Gliederung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/413>, abgerufen am 04.07.2024.