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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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oder Aufruhrsprocessen anhaften? Es ist in Wahrheit das reine Spießbürger-
thum, das nur in den letzteren den politischen Reiz empfindet.

Aber wenn doch auch nur diese Art von politischem Kitzel darauf rechnen
könnte, durch die ersehnte Erweiterung der Schwurgerichtscompetenz wesent¬
lich befriedigt zu werden! Das Gegentheil ist mit Sicherheit vorauszusehen.
Die berufsmäßigen Vertreter der periodischen Presse und die Wortführer der
Wahl- und Bezirksvereine, die sich am stärksten für jenes Postulat erwärmen,
sollten es am besten wissen, daß erfahrungsmäßig fast alle politischen Tra-
casserien, denen sie ausgesetzt gewesen, die überwiegende Mehrzahl der Straf¬
verfolgungen, in denen sie vor den Staatsrichtern nicht Recht gefunden zu
haben glauben, sich ausschließlich um die Deutung eines Wortes oder einiger
Redewendungen gedreht haben. Nicht das stand der Regel nach in Frage,
was die Verfolgten gesagt oder geschrieben hatten, sondern lediglich die straf¬
bare Bedeutung der incriminirten Aeußerungen. Nun ruht ja bekanntlich
die verfassungsmäßige Stellung der Jury in England wie in Deutschland
auf dem Fundamentalprincip, daß die Geschwornen nur die quöstion ot tact,
die reine Thatfrage zu entscheiden haben, die Anwendung des Gesetzes auf
den festgestellten Fall aber unbedingt Sache des Richters sei. Ebenso be¬
kannt ist es in deutschen Landen, daß wir unter dem Vorgange der franzö-
silchen Juristen uns Jahrze-Hute hindurch alle erdenkliche Mühe gegeben
haben, die Trennung zwischen That- und Rechtsfrage möglichst scharfsinnig
zu reguliren, um durch weitgehendste Ausscheidung aller sogenannten Rechts¬
begriffe aus der Fragestellung die Geschworenen mit ihren Wahrsprüchen
thatsächlich recht trocken zu legen. Es müßte wirklich sonderbar zugehen,
wenn sich bei Übertragung der landläufigen "politischen" Vergehen auf die
Schwurgerichte, wie sie heute sind, nicht von unseren Juristen zur Ueberzeu¬
gung erweisen ließe, die Geschworenen hätten selbstverständlich nur zu ent¬
scheiden, was geschrieben oder gesprochen worden sei, nicht aber die criminelle
Strafbarkeit der Aeußerung. Vielleicht stellte man den Satz auch nicht so
kraß hin, wie ich eben gethan, und begnügte sich mit einer praktischen Casuistik,
die überall die einzelnen Paragraphen des Strafgesetzbuchs authentisch inter-
pretirte, was in ihnen als Rechrsbegriff der Auflösung in die Merkmale des
concreten Thalbestandes vor den Geschworenen bedürfe. Hier ist unendlicher
Spielraum für eine subtile Jurisprudenz. Wenn z. B. auf dem Gebiete der
Fälschung die Frage, was eine Urkunde sei, als Rechtsbegriff den Geschwo¬
renen entzogen worden ist, so würde dasselbe auf dem weiten Gebiet der
Ehrverletzungen mit- den Begriffen der "Beleidigung" und "Verleumdung"
zu deduciren sein. Vollends bei Anwendung derartiger Strafbestimmungen,
wie sie die berufenen §§- 100 und 101 des preußischen Strafgesetzbuchs ent¬
halten, würde sich das schönste Versuchsfeld sür die Methode dieser Schwur-


oder Aufruhrsprocessen anhaften? Es ist in Wahrheit das reine Spießbürger-
thum, das nur in den letzteren den politischen Reiz empfindet.

Aber wenn doch auch nur diese Art von politischem Kitzel darauf rechnen
könnte, durch die ersehnte Erweiterung der Schwurgerichtscompetenz wesent¬
lich befriedigt zu werden! Das Gegentheil ist mit Sicherheit vorauszusehen.
Die berufsmäßigen Vertreter der periodischen Presse und die Wortführer der
Wahl- und Bezirksvereine, die sich am stärksten für jenes Postulat erwärmen,
sollten es am besten wissen, daß erfahrungsmäßig fast alle politischen Tra-
casserien, denen sie ausgesetzt gewesen, die überwiegende Mehrzahl der Straf¬
verfolgungen, in denen sie vor den Staatsrichtern nicht Recht gefunden zu
haben glauben, sich ausschließlich um die Deutung eines Wortes oder einiger
Redewendungen gedreht haben. Nicht das stand der Regel nach in Frage,
was die Verfolgten gesagt oder geschrieben hatten, sondern lediglich die straf¬
bare Bedeutung der incriminirten Aeußerungen. Nun ruht ja bekanntlich
die verfassungsmäßige Stellung der Jury in England wie in Deutschland
auf dem Fundamentalprincip, daß die Geschwornen nur die quöstion ot tact,
die reine Thatfrage zu entscheiden haben, die Anwendung des Gesetzes auf
den festgestellten Fall aber unbedingt Sache des Richters sei. Ebenso be¬
kannt ist es in deutschen Landen, daß wir unter dem Vorgange der franzö-
silchen Juristen uns Jahrze-Hute hindurch alle erdenkliche Mühe gegeben
haben, die Trennung zwischen That- und Rechtsfrage möglichst scharfsinnig
zu reguliren, um durch weitgehendste Ausscheidung aller sogenannten Rechts¬
begriffe aus der Fragestellung die Geschworenen mit ihren Wahrsprüchen
thatsächlich recht trocken zu legen. Es müßte wirklich sonderbar zugehen,
wenn sich bei Übertragung der landläufigen „politischen" Vergehen auf die
Schwurgerichte, wie sie heute sind, nicht von unseren Juristen zur Ueberzeu¬
gung erweisen ließe, die Geschworenen hätten selbstverständlich nur zu ent¬
scheiden, was geschrieben oder gesprochen worden sei, nicht aber die criminelle
Strafbarkeit der Aeußerung. Vielleicht stellte man den Satz auch nicht so
kraß hin, wie ich eben gethan, und begnügte sich mit einer praktischen Casuistik,
die überall die einzelnen Paragraphen des Strafgesetzbuchs authentisch inter-
pretirte, was in ihnen als Rechrsbegriff der Auflösung in die Merkmale des
concreten Thalbestandes vor den Geschworenen bedürfe. Hier ist unendlicher
Spielraum für eine subtile Jurisprudenz. Wenn z. B. auf dem Gebiete der
Fälschung die Frage, was eine Urkunde sei, als Rechtsbegriff den Geschwo¬
renen entzogen worden ist, so würde dasselbe auf dem weiten Gebiet der
Ehrverletzungen mit- den Begriffen der „Beleidigung" und „Verleumdung"
zu deduciren sein. Vollends bei Anwendung derartiger Strafbestimmungen,
wie sie die berufenen §§- 100 und 101 des preußischen Strafgesetzbuchs ent¬
halten, würde sich das schönste Versuchsfeld sür die Methode dieser Schwur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/412>, abgerufen am 24.07.2024.