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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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"politischen" Verbrechen und Vergehen! Es ist ganz erfreulich, wie sehr uns
von den Vätern her noch die theologische Auffassung vom Staate im Blute
steckt, und wie viel mystische Bedeutung wir in.das Wort "politisch" hinein-
zulegen wissen! Unter "politischen" Vergehungen lassen sich streng genommen
allerdings die gegen den Staat und seine Existenzbedingungen unmittelbar
gerichteten strafbaren Handlungen, also Hochverrath und Landesverrath, be¬
stimmt begreifen und begrenzen; diese würden als schwere Verbrechen schon
nach dem gemeingültigen System von heute den Schwurgerichten zufallen,
wenn sie ihnen nicht durch die napoleonische Erfindung der Staatsgerichts¬
höfe weggenommen wären. Das Verlangen, diese, wie alle Ausnahme¬
gerichtshöfe verschwinden zu sehen, ist unzweifelhaft im Wesen des Rechts¬
staats begründet; mit der Jury unmittelbar hat es nichts zu thun. Die
Staatsgerichtshöfe könnten fallen, ohne daß ihre bisherige Competenz gerade
der Jury zufielen, sie könnten bestehen bleiben sogar in Verbindung oder
Verquickung mit dem modernen Schwurgerichtsmechanismus. Ein erfindungs¬
reicher Gesetzgeber, wie sie im Königreich Sachsen zu Hause sein sollen, würde
uns unschwer auch einen Staatsschwurgerichtshof ausklügeln. Da überdies
in den letzten Jahrzehnten Hochverrathsprocesse nicht gerade zu den von der
Regierungsseite besonders beliebten und geübten politischen Verfolgungsarten
gehört haben, so wäre mit dieser engeren Kategorie der "politischen" Delicte
in jeder Beziehung wenig geholfen. Man sucht nach weiteren Grenzen und
verliert sich in den willkürlichsten Unterscheidungen. Bald möchte man alle
mittelst der Presse begangenen Verbrechen und Vergehen lediglich ihrer
Form halber als eminent politische Delicte begreifen, bald möchte man tiefer
hinabsteigen in die weite Materie der gemeinhin unter den Titeln "Wider¬
stand wider die Staatsgewalt" und "Vergehen wider die öffentliche Ord¬
nung" zusammengefaßten Delicte. Man befindet sich dabei nur in dem un¬
behaglichen Schwanken, ob man schon jeden Conflict mit einem Nachtwächter,
oder erst den in einer gewissen Zusammenrottung gegen staatliche Organe
höherer Ordnung verübten Angriff, ob man schon jede gemeine Verbalinjurie
gegen Staatsbeamte' oder erst Beleidigungen der Majestät und ihrer Minister
als sür das Schwurgericht qualificirte politische Thaten herausgreifen soll.
Tritt es nicht hierbei klar zu Tage, wieviel eigentlich politische Unreife in
dieser so genannten "politischen" Classification der strafbaren Handlungen steckt?
Ist es nicht unstreitbar, daß in irgend welcher anscheinend sehr unerheblichen
Untersuchung wegen einer Polizeiübertretung, daß bei allen denkbaren Amts¬
vergehen, daß in jedem die Hoheitsrechte des Staats berührenden Civilproceß
die vitalsten Lebensfragen der Verfassung unmittelbar zur Contestation und
politische Interessen von unendlich schwereren Gewicht alle Tage zur Ent¬
scheidung gelangen können, als sie gemeinhin unseren Preß-, Beleidigungs-
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„politischen" Verbrechen und Vergehen! Es ist ganz erfreulich, wie sehr uns
von den Vätern her noch die theologische Auffassung vom Staate im Blute
steckt, und wie viel mystische Bedeutung wir in.das Wort „politisch" hinein-
zulegen wissen! Unter „politischen" Vergehungen lassen sich streng genommen
allerdings die gegen den Staat und seine Existenzbedingungen unmittelbar
gerichteten strafbaren Handlungen, also Hochverrath und Landesverrath, be¬
stimmt begreifen und begrenzen; diese würden als schwere Verbrechen schon
nach dem gemeingültigen System von heute den Schwurgerichten zufallen,
wenn sie ihnen nicht durch die napoleonische Erfindung der Staatsgerichts¬
höfe weggenommen wären. Das Verlangen, diese, wie alle Ausnahme¬
gerichtshöfe verschwinden zu sehen, ist unzweifelhaft im Wesen des Rechts¬
staats begründet; mit der Jury unmittelbar hat es nichts zu thun. Die
Staatsgerichtshöfe könnten fallen, ohne daß ihre bisherige Competenz gerade
der Jury zufielen, sie könnten bestehen bleiben sogar in Verbindung oder
Verquickung mit dem modernen Schwurgerichtsmechanismus. Ein erfindungs¬
reicher Gesetzgeber, wie sie im Königreich Sachsen zu Hause sein sollen, würde
uns unschwer auch einen Staatsschwurgerichtshof ausklügeln. Da überdies
in den letzten Jahrzehnten Hochverrathsprocesse nicht gerade zu den von der
Regierungsseite besonders beliebten und geübten politischen Verfolgungsarten
gehört haben, so wäre mit dieser engeren Kategorie der „politischen" Delicte
in jeder Beziehung wenig geholfen. Man sucht nach weiteren Grenzen und
verliert sich in den willkürlichsten Unterscheidungen. Bald möchte man alle
mittelst der Presse begangenen Verbrechen und Vergehen lediglich ihrer
Form halber als eminent politische Delicte begreifen, bald möchte man tiefer
hinabsteigen in die weite Materie der gemeinhin unter den Titeln „Wider¬
stand wider die Staatsgewalt" und „Vergehen wider die öffentliche Ord¬
nung" zusammengefaßten Delicte. Man befindet sich dabei nur in dem un¬
behaglichen Schwanken, ob man schon jeden Conflict mit einem Nachtwächter,
oder erst den in einer gewissen Zusammenrottung gegen staatliche Organe
höherer Ordnung verübten Angriff, ob man schon jede gemeine Verbalinjurie
gegen Staatsbeamte' oder erst Beleidigungen der Majestät und ihrer Minister
als sür das Schwurgericht qualificirte politische Thaten herausgreifen soll.
Tritt es nicht hierbei klar zu Tage, wieviel eigentlich politische Unreife in
dieser so genannten „politischen" Classification der strafbaren Handlungen steckt?
Ist es nicht unstreitbar, daß in irgend welcher anscheinend sehr unerheblichen
Untersuchung wegen einer Polizeiübertretung, daß bei allen denkbaren Amts¬
vergehen, daß in jedem die Hoheitsrechte des Staats berührenden Civilproceß
die vitalsten Lebensfragen der Verfassung unmittelbar zur Contestation und
politische Interessen von unendlich schwereren Gewicht alle Tage zur Ent¬
scheidung gelangen können, als sie gemeinhin unseren Preß-, Beleidigungs-
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[0411] „politischen" Verbrechen und Vergehen! Es ist ganz erfreulich, wie sehr uns von den Vätern her noch die theologische Auffassung vom Staate im Blute steckt, und wie viel mystische Bedeutung wir in.das Wort „politisch" hinein- zulegen wissen! Unter „politischen" Vergehungen lassen sich streng genommen allerdings die gegen den Staat und seine Existenzbedingungen unmittelbar gerichteten strafbaren Handlungen, also Hochverrath und Landesverrath, be¬ stimmt begreifen und begrenzen; diese würden als schwere Verbrechen schon nach dem gemeingültigen System von heute den Schwurgerichten zufallen, wenn sie ihnen nicht durch die napoleonische Erfindung der Staatsgerichts¬ höfe weggenommen wären. Das Verlangen, diese, wie alle Ausnahme¬ gerichtshöfe verschwinden zu sehen, ist unzweifelhaft im Wesen des Rechts¬ staats begründet; mit der Jury unmittelbar hat es nichts zu thun. Die Staatsgerichtshöfe könnten fallen, ohne daß ihre bisherige Competenz gerade der Jury zufielen, sie könnten bestehen bleiben sogar in Verbindung oder Verquickung mit dem modernen Schwurgerichtsmechanismus. Ein erfindungs¬ reicher Gesetzgeber, wie sie im Königreich Sachsen zu Hause sein sollen, würde uns unschwer auch einen Staatsschwurgerichtshof ausklügeln. Da überdies in den letzten Jahrzehnten Hochverrathsprocesse nicht gerade zu den von der Regierungsseite besonders beliebten und geübten politischen Verfolgungsarten gehört haben, so wäre mit dieser engeren Kategorie der „politischen" Delicte in jeder Beziehung wenig geholfen. Man sucht nach weiteren Grenzen und verliert sich in den willkürlichsten Unterscheidungen. Bald möchte man alle mittelst der Presse begangenen Verbrechen und Vergehen lediglich ihrer Form halber als eminent politische Delicte begreifen, bald möchte man tiefer hinabsteigen in die weite Materie der gemeinhin unter den Titeln „Wider¬ stand wider die Staatsgewalt" und „Vergehen wider die öffentliche Ord¬ nung" zusammengefaßten Delicte. Man befindet sich dabei nur in dem un¬ behaglichen Schwanken, ob man schon jeden Conflict mit einem Nachtwächter, oder erst den in einer gewissen Zusammenrottung gegen staatliche Organe höherer Ordnung verübten Angriff, ob man schon jede gemeine Verbalinjurie gegen Staatsbeamte' oder erst Beleidigungen der Majestät und ihrer Minister als sür das Schwurgericht qualificirte politische Thaten herausgreifen soll. Tritt es nicht hierbei klar zu Tage, wieviel eigentlich politische Unreife in dieser so genannten „politischen" Classification der strafbaren Handlungen steckt? Ist es nicht unstreitbar, daß in irgend welcher anscheinend sehr unerheblichen Untersuchung wegen einer Polizeiübertretung, daß bei allen denkbaren Amts¬ vergehen, daß in jedem die Hoheitsrechte des Staats berührenden Civilproceß die vitalsten Lebensfragen der Verfassung unmittelbar zur Contestation und politische Interessen von unendlich schwereren Gewicht alle Tage zur Ent¬ scheidung gelangen können, als sie gemeinhin unseren Preß-, Beleidigungs- * 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/411>, abgerufen am 24.07.2024.