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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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geknechtet worden fast ohne Aufhören. Nur die ungemeine Genügsamkeit
der Menschen und die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes ermöglichten,
daß diese unglückliche Masse überhaupt auf die Dauer ihr Dasein fristen
konnte. Kein Wechsel der Herrschaft brachte ihm Erleichterung. Erst Mehemed
Ali, welcher als der tyrannischste seiner Herrscher verrufen ist. hatte an diesem
Zustand geändert. Durch ihn war zum ersten Male eine gewisse Rücksicht auf
Landeswohl in den Staat der Orientalen eingeführt worden. Aber seit dem Tode
Ibrahim-Pascha's, des ebenbürtigen Sohnes von Mehemed Ali, der leider
nur wenige Monate den Vater überlebte, hat kein Vicekönig mehr jenem
Beispiel zu folgen vermocht. Pflichten und Rechte der Regierung und der
Staatsangehörigen -- das sind Begriffe, die der Orientale heute noch nicht
kennt. Kaum die bedeutendsten Köpfe unter den Türken haben eine Vor¬
stellung vom modernen Staatsleben und seinen Bedingungen; unter den
Arabern in Aeghpten möchte kein einziger so weit gekommen sein. Trotzdem
hat das ägyptische Volk Eigenschaften bewahrt, deren Entwickelung eine ge¬
deihliche Zukunft bieten könnten. Eine unverwüstliche Gutherzigkeit, Talente
der Nachahmung, z. B. für fremde Sprachen, in ungewöhnlichem Grade,
Sinn für Humor und eine Behendigkeit des Verstandes, die sehr an die ita¬
lienische Volksart erinnern. Die Laster: Feigheit, häufige, aber durchaus nicht
durchgängige Unaufrichtigkeit und Unzuverlässigkeit und Geldgier sind dem
nicht zu verdenken, dem die eigene Negierung unaufhörlich abnimmt, was er
besitzt, der die Peitsche seit unvordenklichen Zeiten über sich geschwungen
sieht, dem List und Lüge die einzigen Waffen gegen eine Tyrannei sind, die
ohne Unterlaß auf ihn drückt.

Ein Volk von solcher Naturanlage und Vergangenheit kann unter un¬
seren klimatischen und socialen Verhältnissen schlechterdings nicht aus sich selbst
von unten auf regenerirt werden, wohl aber kann man es erziehen. Nur
die Regierung hat die Macht dazu, die volle Macht, wenn sie den guten
Willen mitbringt. Ihren Zustand und ihre Fähigkeiten zu betrachten, muß
daher unsere, nächste Aufgabe sein.

Die Regierung des gegenwärtigen Vicekönigs Ismael-Pascha, hat sich
in den Augen Europa's das Ansehen zu geben gewußt, als sei Aegypten
unter fhrem Scepter auf dem Wege europäischer Civilisation mit Riesen¬
schritten herangeeilt. Wir haben Panzerfregatten. Chassepotgewehre und
Armstrongkanonen, Eisenbahnen und Telegraphen, Hofceremoniell und Cour¬
toisie gegen Reisende, Theater und Circus. Offenbachsche Opern, ja Kammer¬
sitzungen, Thronreden und Attentate, wenn diese auch nach dem alten Sprüch¬
lein arrangirt sind: "Flut'se du kein's, so mach' dir eins". Europa sieht
aus einer Entfernung von über 400 Meilen herüber auf Aegypten und die
Ferne verdeckt und verschönt. Reisende von Rang, oder die irgend eine


geknechtet worden fast ohne Aufhören. Nur die ungemeine Genügsamkeit
der Menschen und die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes ermöglichten,
daß diese unglückliche Masse überhaupt auf die Dauer ihr Dasein fristen
konnte. Kein Wechsel der Herrschaft brachte ihm Erleichterung. Erst Mehemed
Ali, welcher als der tyrannischste seiner Herrscher verrufen ist. hatte an diesem
Zustand geändert. Durch ihn war zum ersten Male eine gewisse Rücksicht auf
Landeswohl in den Staat der Orientalen eingeführt worden. Aber seit dem Tode
Ibrahim-Pascha's, des ebenbürtigen Sohnes von Mehemed Ali, der leider
nur wenige Monate den Vater überlebte, hat kein Vicekönig mehr jenem
Beispiel zu folgen vermocht. Pflichten und Rechte der Regierung und der
Staatsangehörigen — das sind Begriffe, die der Orientale heute noch nicht
kennt. Kaum die bedeutendsten Köpfe unter den Türken haben eine Vor¬
stellung vom modernen Staatsleben und seinen Bedingungen; unter den
Arabern in Aeghpten möchte kein einziger so weit gekommen sein. Trotzdem
hat das ägyptische Volk Eigenschaften bewahrt, deren Entwickelung eine ge¬
deihliche Zukunft bieten könnten. Eine unverwüstliche Gutherzigkeit, Talente
der Nachahmung, z. B. für fremde Sprachen, in ungewöhnlichem Grade,
Sinn für Humor und eine Behendigkeit des Verstandes, die sehr an die ita¬
lienische Volksart erinnern. Die Laster: Feigheit, häufige, aber durchaus nicht
durchgängige Unaufrichtigkeit und Unzuverlässigkeit und Geldgier sind dem
nicht zu verdenken, dem die eigene Negierung unaufhörlich abnimmt, was er
besitzt, der die Peitsche seit unvordenklichen Zeiten über sich geschwungen
sieht, dem List und Lüge die einzigen Waffen gegen eine Tyrannei sind, die
ohne Unterlaß auf ihn drückt.

Ein Volk von solcher Naturanlage und Vergangenheit kann unter un¬
seren klimatischen und socialen Verhältnissen schlechterdings nicht aus sich selbst
von unten auf regenerirt werden, wohl aber kann man es erziehen. Nur
die Regierung hat die Macht dazu, die volle Macht, wenn sie den guten
Willen mitbringt. Ihren Zustand und ihre Fähigkeiten zu betrachten, muß
daher unsere, nächste Aufgabe sein.

Die Regierung des gegenwärtigen Vicekönigs Ismael-Pascha, hat sich
in den Augen Europa's das Ansehen zu geben gewußt, als sei Aegypten
unter fhrem Scepter auf dem Wege europäischer Civilisation mit Riesen¬
schritten herangeeilt. Wir haben Panzerfregatten. Chassepotgewehre und
Armstrongkanonen, Eisenbahnen und Telegraphen, Hofceremoniell und Cour¬
toisie gegen Reisende, Theater und Circus. Offenbachsche Opern, ja Kammer¬
sitzungen, Thronreden und Attentate, wenn diese auch nach dem alten Sprüch¬
lein arrangirt sind: „Flut'se du kein's, so mach' dir eins". Europa sieht
aus einer Entfernung von über 400 Meilen herüber auf Aegypten und die
Ferne verdeckt und verschönt. Reisende von Rang, oder die irgend eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/298>, abgerufen am 04.07.2024.