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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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welchem alle jene Bücher abgefaßt sind. In der That fehlt alle elementari¬
sche Grundlage für eine juristische Ausbildung im europäischen Sinne.

Allein die Entwickelung der Islamitischen Rechtspflege wird noch durch
andere Leiden gehindert. Zunächst durch die Heiligkeit des Eides. Er ist
zwar, nebst der Zeugenschaft, ein Hauptbeweismittel des muhamedanischen
Rechts. Allein der Koran selbst sagt: "Gott wird euch nicht zur Verant¬
wortung ziehen wegen eines irrigen Wortes in euern Schwüren; aber zur
Verantwortung wird er euch ziehen für das, was eure Herzen verdienten,
und Gott ist allverzeihend und allmilde." Dem verschlagenen Araber gilt
dieser Passus als Absolution für alle falschen Schwüre, deren unzählige ge¬
schworen werden. Christen gegenüber wirkt als erschwerender Umstand das
religiöse Gebot, die Ungläubigen zu verfolgen. Wie gering die Bedeu¬
tung des Eides erachtet wird, geht auch daraus hervor, daß in keinem mu¬
hamedanischen Staate eine Strafe für Meineid besteht; eben weil sie dem
Koran garnicht entsprechen würde. Endlich ist anzuführen, daß alle pro-
cessualische Vorschriften vollständig fehlen, so daß auch nur die Aufnahme
des Thatbestandes, die Aufsetzung eines Protocolles bei muhamedanischen
Gerichten fast unmöglich, das gerichtliche Verfahren aber ganz in der Willkür
des Richters (Kadi) oder des Verwaltungsbeamten (Mudir, Wekll oder Po¬
lizeivorstandes) liegt.

Man wendet vielleicht ein, die ägyptische Regierung sei ja bereit, durch
Ausbildung junger Leute auf deutschen und französischen Universitäten diese
Uebelstände zu beseitigen. Was aber aus jenen in Jurisprudenz oder Me¬
dicin ausgebildeten Aegyptern wird, wenn sie zurückgekehrt sind, davon er¬
fährt die Welt nichts. Natürlich glaubt Jedermann in Europa, daß sie in
dem Fache verwendet werden, für welches sie ausgebildet wurden. Die
Wahrheit ist, daß selten einer so glücklich wird, als Jurist oder Mediciner
wirken zu können. In den meisten Fällen verwendet man sie unbedenklich,
wo man eben gerade Leute braucht; an der Douane oder der Eisenbahn
findet man sie, nicht bei Gerichten oder in der Sanität; und die niedrigsten
Posten werden nicht zu g-ering geachtet, um sie mit den Aermsten unter jenen
Studenten zu besetzen.

Es ist schwierig, denen, welche diese orientalische Willkür nicht an Ort
und Stelle gesehen haben, einen Begriff von der Bodenlosigkeit hiesigen Re¬
giments beizubringen. Das ägyptische Volk ist als Volk sicherlich eines der
depravirtesten; daß die Individuen nicht nach jeder Richtung demoralisirt
sind, haben sie nur einer natürlichen glücklichen Anlage zu verdanken, welche
selbst Chalifen, Mameluken und Paschas nicht ganz auszutilgen vermoch-
ten. Seit den Zeiten, da der Islam das Land eroberte und die unteren Classen
der Eroberer sich allmälig mit den alten Bewohnern vermischten, ist das Volk


Grenzboien II. 18K9. 37

welchem alle jene Bücher abgefaßt sind. In der That fehlt alle elementari¬
sche Grundlage für eine juristische Ausbildung im europäischen Sinne.

Allein die Entwickelung der Islamitischen Rechtspflege wird noch durch
andere Leiden gehindert. Zunächst durch die Heiligkeit des Eides. Er ist
zwar, nebst der Zeugenschaft, ein Hauptbeweismittel des muhamedanischen
Rechts. Allein der Koran selbst sagt: „Gott wird euch nicht zur Verant¬
wortung ziehen wegen eines irrigen Wortes in euern Schwüren; aber zur
Verantwortung wird er euch ziehen für das, was eure Herzen verdienten,
und Gott ist allverzeihend und allmilde." Dem verschlagenen Araber gilt
dieser Passus als Absolution für alle falschen Schwüre, deren unzählige ge¬
schworen werden. Christen gegenüber wirkt als erschwerender Umstand das
religiöse Gebot, die Ungläubigen zu verfolgen. Wie gering die Bedeu¬
tung des Eides erachtet wird, geht auch daraus hervor, daß in keinem mu¬
hamedanischen Staate eine Strafe für Meineid besteht; eben weil sie dem
Koran garnicht entsprechen würde. Endlich ist anzuführen, daß alle pro-
cessualische Vorschriften vollständig fehlen, so daß auch nur die Aufnahme
des Thatbestandes, die Aufsetzung eines Protocolles bei muhamedanischen
Gerichten fast unmöglich, das gerichtliche Verfahren aber ganz in der Willkür
des Richters (Kadi) oder des Verwaltungsbeamten (Mudir, Wekll oder Po¬
lizeivorstandes) liegt.

Man wendet vielleicht ein, die ägyptische Regierung sei ja bereit, durch
Ausbildung junger Leute auf deutschen und französischen Universitäten diese
Uebelstände zu beseitigen. Was aber aus jenen in Jurisprudenz oder Me¬
dicin ausgebildeten Aegyptern wird, wenn sie zurückgekehrt sind, davon er¬
fährt die Welt nichts. Natürlich glaubt Jedermann in Europa, daß sie in
dem Fache verwendet werden, für welches sie ausgebildet wurden. Die
Wahrheit ist, daß selten einer so glücklich wird, als Jurist oder Mediciner
wirken zu können. In den meisten Fällen verwendet man sie unbedenklich,
wo man eben gerade Leute braucht; an der Douane oder der Eisenbahn
findet man sie, nicht bei Gerichten oder in der Sanität; und die niedrigsten
Posten werden nicht zu g-ering geachtet, um sie mit den Aermsten unter jenen
Studenten zu besetzen.

Es ist schwierig, denen, welche diese orientalische Willkür nicht an Ort
und Stelle gesehen haben, einen Begriff von der Bodenlosigkeit hiesigen Re¬
giments beizubringen. Das ägyptische Volk ist als Volk sicherlich eines der
depravirtesten; daß die Individuen nicht nach jeder Richtung demoralisirt
sind, haben sie nur einer natürlichen glücklichen Anlage zu verdanken, welche
selbst Chalifen, Mameluken und Paschas nicht ganz auszutilgen vermoch-
ten. Seit den Zeiten, da der Islam das Land eroberte und die unteren Classen
der Eroberer sich allmälig mit den alten Bewohnern vermischten, ist das Volk


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[0297] welchem alle jene Bücher abgefaßt sind. In der That fehlt alle elementari¬ sche Grundlage für eine juristische Ausbildung im europäischen Sinne. Allein die Entwickelung der Islamitischen Rechtspflege wird noch durch andere Leiden gehindert. Zunächst durch die Heiligkeit des Eides. Er ist zwar, nebst der Zeugenschaft, ein Hauptbeweismittel des muhamedanischen Rechts. Allein der Koran selbst sagt: „Gott wird euch nicht zur Verant¬ wortung ziehen wegen eines irrigen Wortes in euern Schwüren; aber zur Verantwortung wird er euch ziehen für das, was eure Herzen verdienten, und Gott ist allverzeihend und allmilde." Dem verschlagenen Araber gilt dieser Passus als Absolution für alle falschen Schwüre, deren unzählige ge¬ schworen werden. Christen gegenüber wirkt als erschwerender Umstand das religiöse Gebot, die Ungläubigen zu verfolgen. Wie gering die Bedeu¬ tung des Eides erachtet wird, geht auch daraus hervor, daß in keinem mu¬ hamedanischen Staate eine Strafe für Meineid besteht; eben weil sie dem Koran garnicht entsprechen würde. Endlich ist anzuführen, daß alle pro- cessualische Vorschriften vollständig fehlen, so daß auch nur die Aufnahme des Thatbestandes, die Aufsetzung eines Protocolles bei muhamedanischen Gerichten fast unmöglich, das gerichtliche Verfahren aber ganz in der Willkür des Richters (Kadi) oder des Verwaltungsbeamten (Mudir, Wekll oder Po¬ lizeivorstandes) liegt. Man wendet vielleicht ein, die ägyptische Regierung sei ja bereit, durch Ausbildung junger Leute auf deutschen und französischen Universitäten diese Uebelstände zu beseitigen. Was aber aus jenen in Jurisprudenz oder Me¬ dicin ausgebildeten Aegyptern wird, wenn sie zurückgekehrt sind, davon er¬ fährt die Welt nichts. Natürlich glaubt Jedermann in Europa, daß sie in dem Fache verwendet werden, für welches sie ausgebildet wurden. Die Wahrheit ist, daß selten einer so glücklich wird, als Jurist oder Mediciner wirken zu können. In den meisten Fällen verwendet man sie unbedenklich, wo man eben gerade Leute braucht; an der Douane oder der Eisenbahn findet man sie, nicht bei Gerichten oder in der Sanität; und die niedrigsten Posten werden nicht zu g-ering geachtet, um sie mit den Aermsten unter jenen Studenten zu besetzen. Es ist schwierig, denen, welche diese orientalische Willkür nicht an Ort und Stelle gesehen haben, einen Begriff von der Bodenlosigkeit hiesigen Re¬ giments beizubringen. Das ägyptische Volk ist als Volk sicherlich eines der depravirtesten; daß die Individuen nicht nach jeder Richtung demoralisirt sind, haben sie nur einer natürlichen glücklichen Anlage zu verdanken, welche selbst Chalifen, Mameluken und Paschas nicht ganz auszutilgen vermoch- ten. Seit den Zeiten, da der Islam das Land eroberte und die unteren Classen der Eroberer sich allmälig mit den alten Bewohnern vermischten, ist das Volk Grenzboien II. 18K9. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/297>, abgerufen am 24.07.2024.