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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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nationalen behaupten, der unruhige Sinn der akademischen Jugend sei wesent¬
lich auf die Umtriebe unzufriedener Polen und Aristokraten zurückzuführen,
während die Letzteren aus den vorgefallenen Ruhestörungen Schlüsse auf die
Gefährlichkeit demokratischer und panslawistischer Ideen ziehen und auf die
Nothwendigkeit eines restriktiven Unterrichtssystems hinweisen, -- Unterdessen
hat die Thätigkeit der Regierung nicht gefeiert. Die verbesserte Gerichtsorga-
nisation ist wiederum auf eine Anzahl neuer Provinzen ausgedehnt worden,
der Reichsrath discutirt ein Gesetz über den Verkauf der Staatsbergwerke,
der Kriegsminister hat eine unserem Freiwilligeninstitute analoge Einrichtung
für die Armee ins Leben gerufen, und außerdem wird an Eisenbahnen und
" Eisenbahnprojecten rüstig weiter gearbeitet. Die vielbesprochene Kowno-Libauer
Eisenbahn ist aufs Neue Gegenstand eifriger Zeitungsdebatten geworden;
eine preußische Gesellschaft wünscht nämlich die Concession zu der Linie Lyk-
Bjälostok-Brest zu erwerben, und ist bereit dieselbe auch ohne Zinsgarantie
zu bauen. In Moskau glaubt man in diesem Project zugleich eine strate¬
gische Gefahr für das westliche Rußland und einen Versuch zur Werthver¬
minderung des Kowno-Libauer Schienenwegs sehen zu müssen, und aus diesem
Grunde wird die Regierung dringend vor den preußischen Anerbietungen ge¬
warnt. Der Zweck der Kowno-Libauer Bahn ist bekanntlich, den polnischen
und westrussischen Export in einen russischen Hafen zu leiten, und von Königs¬
berg, wohin derselbe bisher mündete, abzuziehen. Da die Lyker Eisenbahn aber
die Verbindung mit Königsberg erleichtern würde, soll dieselbe um jeden
Preis verhindert werden, und wird ein Concurrenzproject zu Gunsten Danzigs
von nationaler Seite her nach Kräften unterstützt. Die immer näher rückende
Eröffnung des Suezcanals hat nämlich eine Anzahl Danziger Firmen auf die
Vortheile aufmerksam gemacht, welches sich aus einer erleichterten Verbindung
mit Odessa, dem Haupthafen des Schwarzen Meeres ziehen ließen; die¬
selben haben vorgeschlagen, Danzig mit den westrussischen Bahnen (bet
Minsk) direct zu verbinden, da diese Bahnen demnächst mit den im Bau
begriffenen südrussischen Linien ein Ganzes bilden werden. Wie es heißt, soll
die Entscheidung über dieses der Lyker Bahn concurrirende Project schon in
einigen Wochen gefällt werden.

Im westlichen Europa ist die allgemeine Aufmerksamkeit in den letzten
Wochen besonders lebhaft mit Italien beschäftigt gewesen. Nicht etwa weil
Herr Cambray-Digny des italienische Deficit mit Hülfe des Kirchengüter-
Verkaufs auf ein Viertel seines bisherigen Betrages (statt 388 bloße 75
Millionen) herabzusetzen versprochen, sondern weil Pius IX. sein SOjähriges
Priesterjubiläum zum Gegenstande einer großen Schaustellung gemacht hatte.
Von allen Ecken und Enden des Welttheils sind die Gläubigen in die ewige
Stadt gewallfahrtet, um der Welt zu beweisen, daß der Felsen Petri allen


nationalen behaupten, der unruhige Sinn der akademischen Jugend sei wesent¬
lich auf die Umtriebe unzufriedener Polen und Aristokraten zurückzuführen,
während die Letzteren aus den vorgefallenen Ruhestörungen Schlüsse auf die
Gefährlichkeit demokratischer und panslawistischer Ideen ziehen und auf die
Nothwendigkeit eines restriktiven Unterrichtssystems hinweisen, — Unterdessen
hat die Thätigkeit der Regierung nicht gefeiert. Die verbesserte Gerichtsorga-
nisation ist wiederum auf eine Anzahl neuer Provinzen ausgedehnt worden,
der Reichsrath discutirt ein Gesetz über den Verkauf der Staatsbergwerke,
der Kriegsminister hat eine unserem Freiwilligeninstitute analoge Einrichtung
für die Armee ins Leben gerufen, und außerdem wird an Eisenbahnen und
" Eisenbahnprojecten rüstig weiter gearbeitet. Die vielbesprochene Kowno-Libauer
Eisenbahn ist aufs Neue Gegenstand eifriger Zeitungsdebatten geworden;
eine preußische Gesellschaft wünscht nämlich die Concession zu der Linie Lyk-
Bjälostok-Brest zu erwerben, und ist bereit dieselbe auch ohne Zinsgarantie
zu bauen. In Moskau glaubt man in diesem Project zugleich eine strate¬
gische Gefahr für das westliche Rußland und einen Versuch zur Werthver¬
minderung des Kowno-Libauer Schienenwegs sehen zu müssen, und aus diesem
Grunde wird die Regierung dringend vor den preußischen Anerbietungen ge¬
warnt. Der Zweck der Kowno-Libauer Bahn ist bekanntlich, den polnischen
und westrussischen Export in einen russischen Hafen zu leiten, und von Königs¬
berg, wohin derselbe bisher mündete, abzuziehen. Da die Lyker Eisenbahn aber
die Verbindung mit Königsberg erleichtern würde, soll dieselbe um jeden
Preis verhindert werden, und wird ein Concurrenzproject zu Gunsten Danzigs
von nationaler Seite her nach Kräften unterstützt. Die immer näher rückende
Eröffnung des Suezcanals hat nämlich eine Anzahl Danziger Firmen auf die
Vortheile aufmerksam gemacht, welches sich aus einer erleichterten Verbindung
mit Odessa, dem Haupthafen des Schwarzen Meeres ziehen ließen; die¬
selben haben vorgeschlagen, Danzig mit den westrussischen Bahnen (bet
Minsk) direct zu verbinden, da diese Bahnen demnächst mit den im Bau
begriffenen südrussischen Linien ein Ganzes bilden werden. Wie es heißt, soll
die Entscheidung über dieses der Lyker Bahn concurrirende Project schon in
einigen Wochen gefällt werden.

Im westlichen Europa ist die allgemeine Aufmerksamkeit in den letzten
Wochen besonders lebhaft mit Italien beschäftigt gewesen. Nicht etwa weil
Herr Cambray-Digny des italienische Deficit mit Hülfe des Kirchengüter-
Verkaufs auf ein Viertel seines bisherigen Betrages (statt 388 bloße 75
Millionen) herabzusetzen versprochen, sondern weil Pius IX. sein SOjähriges
Priesterjubiläum zum Gegenstande einer großen Schaustellung gemacht hatte.
Von allen Ecken und Enden des Welttheils sind die Gläubigen in die ewige
Stadt gewallfahrtet, um der Welt zu beweisen, daß der Felsen Petri allen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/197>, abgerufen am 04.07.2024.