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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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stand der im Oberhause vertretenen hohen Geistlichkeit der anglikanischen
Kirche ist noch nicht vollständig gebrochen. Auf die große Masse der Be¬
völkerung haben Lope's Budgetersparnisse und Abrüstungsmaßregeln einen
entschieden günstigen Eindruck gemacht, aber die Wehrkraft Englands hat
durch dieselbe nicht gewonnen und John Bright wird dafür sorgen, daß mit
Verminderung der Armee und Flotte wo möglich noch weiter vorgegangen
wird. Dabei ist das britische Cabinet bereits anderweitig von diplomati¬
schen Fragen in Anspruch genommen. Der Nachfolger des amerikanischen
Gesandten Reverdy-Johnson wird, wie man annimmt, sehr viel weniger Eifer
für Beilegung des Alabamastreits mitbringen, als der redselige Tischgenosse
des Lordmayors, und am östlichen Horizont tauchen die Gefahren eines
Conflicts mit den in Mittelasien unaufhaltsam vorschreitender Russen auf.
Gladstone's Bemerkungen über freundschaftliche Verhandlungen, welche darüber
mit dem Petersburger Cabinet angeknüpft seien, sind von der Presse der
beiden russischen Hauptstädte sehr ungünstig aufgenommen worden. Läßt sich
nach den Aussprüchen der "Most. Zeitung", des "Golos" und auch der
konservativen "Wesstj" auf die herrschende Stimmung schließen, so ist der
Gedanke an Zugeständnisse, welche den englischen Wünschen in Afghanistan
gemacht werden sollen, bei allen Parteien gleich unpopulair. Man beruft sich
auf Englands feindliches Verhalten in der orientalischen Frage und imputirt
außerdem den Vereinbarungen, welche der neue Vicekönig in Ostindien, Lord
Mayo, mit schir-Alp getroffen hat, einen provokatorischen Charakter. Nuß-
land -- so heißt es -- habe absolut kein Interesse daran, sich zu Gunsten
Englands durch politische oder commerzielle Verträge die Hände zu binden
oder in die Anstellung gegenseitiger Consularagenten für Indien und Tur-
kestan zu willigen; im Gegentheil müsse Rußland in der Lage bleiben, für
den Fall neuer Meinungsverschiedenheiten über die orientalische Frage die
Gunst seiner turkestanischen Stellung in die Wagschale werfen zu können.
Daß es im Augenblick ruhiger im europäischen Osten aussieht, bietet nach
russischer Anschauung keine Garantie für die Zukunft und die türkischen Re-
gierungsmaßregetn gegen die Sporaden haben in Petersburg ebensowenig
einen guten Eindruck machen können, wie das neu erlassene Gesetz, nach wel¬
chem keine in der Türkei geborene Person sich durch Anschaffung eines frem¬
den Passes einer anderen Nationalität anschließen darf.

Freilich spielen all' diese Dinge zur Zeit auch in Rußland eine unter¬
geordnete Rolle, da man mit inneren Angelegenheiten vollauf zu thun hat.
Die Armee wird mit Hinterladern bewaffnet, in Polen wie in den Ostsee¬
provinzen stoßen die russificatorischen Maßregeln fortwährend auf Schwierig¬
keiten, und die Studentenunruhen in der Newaresidenz bieten der Streitlust
und den Intriguen der Parteien einen willkommenen Gegenstand. Die Moskaner


stand der im Oberhause vertretenen hohen Geistlichkeit der anglikanischen
Kirche ist noch nicht vollständig gebrochen. Auf die große Masse der Be¬
völkerung haben Lope's Budgetersparnisse und Abrüstungsmaßregeln einen
entschieden günstigen Eindruck gemacht, aber die Wehrkraft Englands hat
durch dieselbe nicht gewonnen und John Bright wird dafür sorgen, daß mit
Verminderung der Armee und Flotte wo möglich noch weiter vorgegangen
wird. Dabei ist das britische Cabinet bereits anderweitig von diplomati¬
schen Fragen in Anspruch genommen. Der Nachfolger des amerikanischen
Gesandten Reverdy-Johnson wird, wie man annimmt, sehr viel weniger Eifer
für Beilegung des Alabamastreits mitbringen, als der redselige Tischgenosse
des Lordmayors, und am östlichen Horizont tauchen die Gefahren eines
Conflicts mit den in Mittelasien unaufhaltsam vorschreitender Russen auf.
Gladstone's Bemerkungen über freundschaftliche Verhandlungen, welche darüber
mit dem Petersburger Cabinet angeknüpft seien, sind von der Presse der
beiden russischen Hauptstädte sehr ungünstig aufgenommen worden. Läßt sich
nach den Aussprüchen der „Most. Zeitung", des „Golos" und auch der
konservativen „Wesstj" auf die herrschende Stimmung schließen, so ist der
Gedanke an Zugeständnisse, welche den englischen Wünschen in Afghanistan
gemacht werden sollen, bei allen Parteien gleich unpopulair. Man beruft sich
auf Englands feindliches Verhalten in der orientalischen Frage und imputirt
außerdem den Vereinbarungen, welche der neue Vicekönig in Ostindien, Lord
Mayo, mit schir-Alp getroffen hat, einen provokatorischen Charakter. Nuß-
land — so heißt es — habe absolut kein Interesse daran, sich zu Gunsten
Englands durch politische oder commerzielle Verträge die Hände zu binden
oder in die Anstellung gegenseitiger Consularagenten für Indien und Tur-
kestan zu willigen; im Gegentheil müsse Rußland in der Lage bleiben, für
den Fall neuer Meinungsverschiedenheiten über die orientalische Frage die
Gunst seiner turkestanischen Stellung in die Wagschale werfen zu können.
Daß es im Augenblick ruhiger im europäischen Osten aussieht, bietet nach
russischer Anschauung keine Garantie für die Zukunft und die türkischen Re-
gierungsmaßregetn gegen die Sporaden haben in Petersburg ebensowenig
einen guten Eindruck machen können, wie das neu erlassene Gesetz, nach wel¬
chem keine in der Türkei geborene Person sich durch Anschaffung eines frem¬
den Passes einer anderen Nationalität anschließen darf.

Freilich spielen all' diese Dinge zur Zeit auch in Rußland eine unter¬
geordnete Rolle, da man mit inneren Angelegenheiten vollauf zu thun hat.
Die Armee wird mit Hinterladern bewaffnet, in Polen wie in den Ostsee¬
provinzen stoßen die russificatorischen Maßregeln fortwährend auf Schwierig¬
keiten, und die Studentenunruhen in der Newaresidenz bieten der Streitlust
und den Intriguen der Parteien einen willkommenen Gegenstand. Die Moskaner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/196>, abgerufen am 25.07.2024.