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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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lich abgeschafften Zeitungsstempel -- viel zu theuer; mit einem Wort: die
unteren Classen lesen nicht mehr, wenn sie mit dem zwölften Jahre die
Schule verlassen haben, und die geschriebenen Rechnungen unserer Handwerker
beweisen, welche Spuren der Schulunterricht zurückgelassen hat.

Die Bildungsstufe der höheren Classen ist allerdings durchgängig nicht
auf demselben Niveau mit der der Gebildeten in Deutschland, aber der ge¬
sunde praktische Sinn der Holländer und- eine langjährige Beschäftigung mit
öffentlichen Angelegenheiten geben dafür hinreichenden Ersatz.

Gemüth, Humanität und Religiosität sind Hauptzüge des Volkscharakters
und es wird schwerlich eine religiösere Nation als die holländische zu finden
sein. Dagegen findet man in Glaubenssachen alle Abstufungen, deren ein
nüchternes Volk fähig ist, vertreten; besonders hat das sogenannte moderne
Christenthum in der letzten Zeit unter den Gebildeten sehr zugenommen.
Man wird der Wahrheit wohl am nächsten kommen, wenn man die eine
Hälfte der höheren Stände zu den Liberalen und die andere zu den Ortho¬
doxen rechnet. Bei dem hohen Wahlcensus kann man mit ziemlicher Sicher¬
heit die zweite Kammer als den Ausdruck des Willens des gebildeten Theils
der Bevölkerung ansehen, und wie jene so stellt auch diese sich zur Schul¬
frage. Nur ein Theil der Orthodoxen verlangt mit den Katholiken Revision
des Schulgesetzes, resp, confessionelle Schulen, der andere Theil, und natür¬
lich mit ihnen die sogenannten Modernen, wollen den Status pu" beibehalten.
Die Mittelclassen, die sogenannte Bourgeoisie, sind einer gewissen allgemei¬
nen, obschon nicht gründlichen Bildung theilhaft und haben eine instinctive
Abneigung gegen das Treiben der Secten. Die niederen Classen, die täglich
um ihr Dasein ringen, geben dafür ein desto günstigeres Terrain ab, und es
ist im Allgemeinen wahr, daß, wer aus denselben sich um etwas mehr als
den täglichen Erwerb kümmert, sich ausschließlich mit den Geheimnissen und
dunklen metaphysischen Fragen des Christenthums beschäftigt. Daß die Be¬
fähigung zur Lösung derselben fehlt, versteht sich von selbst. Von der Aristo¬
kratie wird diese Richtung besonders begünstigt.

Eben im Namen dieses Theils der Bevölkerung arbeitet Herr Groen
zur Erlangung der konfessionellen Schule. Diese Leute haben größtentheils
nicht das Wahlrecht, und darum stützt sich Herr Groen auf "das Volk hinter
den Wählern."

Muß man diesen Leuten nun auch den Titel des "besseren Theils ihrer
Standesgenossen" geben, so ist doch -- wie in fast allen Dingen -- dieser
bessere Theil bei weitem der kleinste.

Ob ein moderner Staat der in Rom entsprungenen reactionairen Strö¬
mung Rechnung tragen muß und darf, ist zu bezweifeln; jedenfalls aber
muß die niederländische Regierung mit den Katholiken, die ein gutes Drittel


lich abgeschafften Zeitungsstempel — viel zu theuer; mit einem Wort: die
unteren Classen lesen nicht mehr, wenn sie mit dem zwölften Jahre die
Schule verlassen haben, und die geschriebenen Rechnungen unserer Handwerker
beweisen, welche Spuren der Schulunterricht zurückgelassen hat.

Die Bildungsstufe der höheren Classen ist allerdings durchgängig nicht
auf demselben Niveau mit der der Gebildeten in Deutschland, aber der ge¬
sunde praktische Sinn der Holländer und- eine langjährige Beschäftigung mit
öffentlichen Angelegenheiten geben dafür hinreichenden Ersatz.

Gemüth, Humanität und Religiosität sind Hauptzüge des Volkscharakters
und es wird schwerlich eine religiösere Nation als die holländische zu finden
sein. Dagegen findet man in Glaubenssachen alle Abstufungen, deren ein
nüchternes Volk fähig ist, vertreten; besonders hat das sogenannte moderne
Christenthum in der letzten Zeit unter den Gebildeten sehr zugenommen.
Man wird der Wahrheit wohl am nächsten kommen, wenn man die eine
Hälfte der höheren Stände zu den Liberalen und die andere zu den Ortho¬
doxen rechnet. Bei dem hohen Wahlcensus kann man mit ziemlicher Sicher¬
heit die zweite Kammer als den Ausdruck des Willens des gebildeten Theils
der Bevölkerung ansehen, und wie jene so stellt auch diese sich zur Schul¬
frage. Nur ein Theil der Orthodoxen verlangt mit den Katholiken Revision
des Schulgesetzes, resp, confessionelle Schulen, der andere Theil, und natür¬
lich mit ihnen die sogenannten Modernen, wollen den Status pu« beibehalten.
Die Mittelclassen, die sogenannte Bourgeoisie, sind einer gewissen allgemei¬
nen, obschon nicht gründlichen Bildung theilhaft und haben eine instinctive
Abneigung gegen das Treiben der Secten. Die niederen Classen, die täglich
um ihr Dasein ringen, geben dafür ein desto günstigeres Terrain ab, und es
ist im Allgemeinen wahr, daß, wer aus denselben sich um etwas mehr als
den täglichen Erwerb kümmert, sich ausschließlich mit den Geheimnissen und
dunklen metaphysischen Fragen des Christenthums beschäftigt. Daß die Be¬
fähigung zur Lösung derselben fehlt, versteht sich von selbst. Von der Aristo¬
kratie wird diese Richtung besonders begünstigt.

Eben im Namen dieses Theils der Bevölkerung arbeitet Herr Groen
zur Erlangung der konfessionellen Schule. Diese Leute haben größtentheils
nicht das Wahlrecht, und darum stützt sich Herr Groen auf „das Volk hinter
den Wählern."

Muß man diesen Leuten nun auch den Titel des „besseren Theils ihrer
Standesgenossen" geben, so ist doch — wie in fast allen Dingen — dieser
bessere Theil bei weitem der kleinste.

Ob ein moderner Staat der in Rom entsprungenen reactionairen Strö¬
mung Rechnung tragen muß und darf, ist zu bezweifeln; jedenfalls aber
muß die niederländische Regierung mit den Katholiken, die ein gutes Drittel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/183>, abgerufen am 24.07.2024.