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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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selben die Wünsche der großen Mehrzahl des Volkes befriedigt werden könn¬
ten; die Klagen, die von der Gegenpartei gegen das Gesetz erhoben würden,
stützten sich auf keine Thatsachen und bewegten sich in so allgemeinen Aus¬
drücken, daß man ihnen keine bestimmt ausgesprochenen Wünsche entnehmen
könne. Wofern ihm von Mitgliedern der Kammer Thatsachen mitgetheilt
dazu würden, wolle er dieselben untersuchen, im Uebrigen überlasse er es den sich
berufen fühlenden Männern, den Entwurf eines neuen Gesetzes einzureichen.
Nach einigen verunglückten Anstrengungen der Christlich-nationalen und der
inzwischen durch ein gegen die neutrale Schule gerichtetes Votum der Bischöfe
noch mehr aufgeregten Katholiken, eine dem Minister Font ungünstige Stim¬
mung hervorzurufen, ist vorläufig die Schulfrage von der Tagesordnung
der Kammer verschwunden. Von dem gegenwärtigen Cabinet wird an der¬
selben jedenfalls nicht gerührt werden und die Kammer wird bei ihrer der-
weiligen Zusammensetzung schwerlich etwas thun. Da jedoch im Juni die
Hälfte der Kammermitglieder abtreten muß, wird bei der Neuwahl der Kampf
vermuthlich aufs Neue entbrennen.

Hiermit glaube ich in kurzen Zügen die Geschichte des Schulstreites in
der zweiten Kammer skizzirt zu haben; in der ersten hat derselbe einen
ganz ähnlichen Verlauf gehabt. Die Voden, über welche die Christlich-
Nationalen und die Katholiken zu verfügen haben, erreichen noch nicht den
vierten Theil der Stimmen, und da die konservative Partei durchaus nicht
geneigt ist, die neutrale Schule zu opfern, so droht derselben weder von der
gesetzgebenden noch von der ausführenden Gewalt Gefahr. In jedem civili-
sirten Lande besteht aber noch eine dritte Macht, die der öffentlichen Mei¬
nung, und obgleich dieselbe in den Kammern ihren Ausdruck erhalten, also
mit dieser zusammenfallen soll, so ist das nicht immer der Fall. Zur Ge¬
schichte des hiesigen Schulstreites gehört also auch das Verhältniß des Volkes
zu demselben. Um dasselbe richtig würdigen zu können, muß ich einige Worte
über den Bildungsgrad voranschicken. -- Die unteren Classen, bis zum kleinen
Handwerker, bekümmern sich um Fragen, die nicht den täglichen Erwerb be¬
treffen, fast gar nicht. Zwar durchgängig religiös und einigermaßen zum
Pietismus geneigt, ist ihr Bildungsgrad im Verhältniß zu denselben Classen
in Deutschland so niedrig, daß es wahrlich viel besser wäre, man stritte sich
nicht über neutrale oder confessionelle Schulen, sondern beriethe über die
Mittel, wie dem Unterricht überhaupt mehr Einfluß auf das Volk gegeben
werden könnte. Nach statistischen Nachweisen besucht ein Fünftel der Kinder
zwischen sechs und zwölf Jahren keine Schule; von Unterricht nach dem
zwölften Jahre ist keine Rede, einzelne, nicht nennenswerthe Ausnahmen ab¬
gerechnet; die wenigen für's Volk berechneten Bücher finden beinahe keine
Leser; Zeitungen sind -- Dank sei dem enormen, seit einigen Tagen glück-


selben die Wünsche der großen Mehrzahl des Volkes befriedigt werden könn¬
ten; die Klagen, die von der Gegenpartei gegen das Gesetz erhoben würden,
stützten sich auf keine Thatsachen und bewegten sich in so allgemeinen Aus¬
drücken, daß man ihnen keine bestimmt ausgesprochenen Wünsche entnehmen
könne. Wofern ihm von Mitgliedern der Kammer Thatsachen mitgetheilt
dazu würden, wolle er dieselben untersuchen, im Uebrigen überlasse er es den sich
berufen fühlenden Männern, den Entwurf eines neuen Gesetzes einzureichen.
Nach einigen verunglückten Anstrengungen der Christlich-nationalen und der
inzwischen durch ein gegen die neutrale Schule gerichtetes Votum der Bischöfe
noch mehr aufgeregten Katholiken, eine dem Minister Font ungünstige Stim¬
mung hervorzurufen, ist vorläufig die Schulfrage von der Tagesordnung
der Kammer verschwunden. Von dem gegenwärtigen Cabinet wird an der¬
selben jedenfalls nicht gerührt werden und die Kammer wird bei ihrer der-
weiligen Zusammensetzung schwerlich etwas thun. Da jedoch im Juni die
Hälfte der Kammermitglieder abtreten muß, wird bei der Neuwahl der Kampf
vermuthlich aufs Neue entbrennen.

Hiermit glaube ich in kurzen Zügen die Geschichte des Schulstreites in
der zweiten Kammer skizzirt zu haben; in der ersten hat derselbe einen
ganz ähnlichen Verlauf gehabt. Die Voden, über welche die Christlich-
Nationalen und die Katholiken zu verfügen haben, erreichen noch nicht den
vierten Theil der Stimmen, und da die konservative Partei durchaus nicht
geneigt ist, die neutrale Schule zu opfern, so droht derselben weder von der
gesetzgebenden noch von der ausführenden Gewalt Gefahr. In jedem civili-
sirten Lande besteht aber noch eine dritte Macht, die der öffentlichen Mei¬
nung, und obgleich dieselbe in den Kammern ihren Ausdruck erhalten, also
mit dieser zusammenfallen soll, so ist das nicht immer der Fall. Zur Ge¬
schichte des hiesigen Schulstreites gehört also auch das Verhältniß des Volkes
zu demselben. Um dasselbe richtig würdigen zu können, muß ich einige Worte
über den Bildungsgrad voranschicken. — Die unteren Classen, bis zum kleinen
Handwerker, bekümmern sich um Fragen, die nicht den täglichen Erwerb be¬
treffen, fast gar nicht. Zwar durchgängig religiös und einigermaßen zum
Pietismus geneigt, ist ihr Bildungsgrad im Verhältniß zu denselben Classen
in Deutschland so niedrig, daß es wahrlich viel besser wäre, man stritte sich
nicht über neutrale oder confessionelle Schulen, sondern beriethe über die
Mittel, wie dem Unterricht überhaupt mehr Einfluß auf das Volk gegeben
werden könnte. Nach statistischen Nachweisen besucht ein Fünftel der Kinder
zwischen sechs und zwölf Jahren keine Schule; von Unterricht nach dem
zwölften Jahre ist keine Rede, einzelne, nicht nennenswerthe Ausnahmen ab¬
gerechnet; die wenigen für's Volk berechneten Bücher finden beinahe keine
Leser; Zeitungen sind — Dank sei dem enormen, seit einigen Tagen glück-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/182>, abgerufen am 24.07.2024.