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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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diese Auffassung wurden die seit dem Concordatsstreite noch nichtberuhigten
Gemüther des Volkes wieder aufgeregt, und die Folge dieser Agitation
war eine Menge Adressen, aus denen man jedoch keinen allgemein aus-
gesprochenen Wunsch formuliren konnte.

Das Gesetz vom Jahre 1806 sprach von "christlichen Tugenden", der
Entwurf van Rheenen nicht. Man spiegelte dem Volk vor, die Liberalen
wollten unchristliche Schulen haben, um damit das Christenthum zu beseitigen.
Das war dem religiösen Sinn der Holländer, die mit dem Geiste des Ge¬
setzes vom Jahre 1806 zufrieden gewesen waren, und die Segnungen des¬
selben kennen gelernt hatten, zu arg. Daher rührte der Petitionensturm.
Einige Adressen verlangten Confessionsschulen, andere allgemein christliche,
und wieder andere besondere Schulen für die Jsraeliten. Hauptsächlich schien
aber der Geist des Volkes durch Auslassung des Passus "christliche Tugenden"
in Aufregung gebracht worden zu sein.

Das Cabinet van Rheenen. seiner Ueberzeugung treu bleibend, trat ab,
und das Ministerium Simons-van der Brugghen wurde sein Erbe. Von
diesem erwartete die ultra-orthodoxe Partei -- oder besser gesagt die christ-
lich-nationale Partei des Herrn Groen van Prinsterer --ihr Heil; gehörten
doch die Hauptpersonen des Cabinets ihr an. Sie wurde indessen gründlich
enttäuscht, da das von dem Cabinet mit der Majorität der Kammer nun¬
mehr vereinbarte Gesetz von dem Entwurf van Rheenen nur durch Hinzu¬
fügung des Ausdrucks "christliche Tugenden" abwich.

Die "christlich-nationale Partei" hatte sich beim Concordatsstreite mit
den Conservativen zum Umsturz des Ministeriums Thorbecke vereinigt, und
Herr Groen hatte gehofft, daß seine Partei zur Belohnung für ihre Hülfe
gegen Thorbecke jetzt durch die Conservativen in der Schulfrage unterstützt
werden würde. Aber diese Conservativen verließen ihre bisherigen Freunde
und stimmten mit Liberalen und Katholiken für die neutrale Schule. Das
Gesetz wurde mit 47 gegen 13 Stimmen in der zweiten Kammer angenom¬
men. Die Artikel, worin die Neutralität der Schule ausgesprochen ist, lauten
jetzt folgendermaßen:

"§. 16. In jeder Gemeinde wird der Elementarunterricht in einer der
Bevölkerung und dem Bedürfniß entsprechenden Anzahl Schulen ertheilt, die
allen Kindern ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses zugänglich sind.

§. 23. Die Schule bezweckt, die Verstandeskräfte der Kinder durch Unter¬
richt in zweckmäßigen und nützlichen Kenntnissen zu entwickeln und dieselben
zu allen christlichen und bürgerlichen Tugenden zu erziehen.

Der Lehrer vermeidet Alles zu lehren, zu thun oder zu lassen, was gegen
die Achtung, die den religiösen Ansichten Andersdenkender gebührt, streitet.

Der Religionsunterricht wird den kirchlichen Genossenschaften überlassen.


Grenzboten II. 18K9. 22

diese Auffassung wurden die seit dem Concordatsstreite noch nichtberuhigten
Gemüther des Volkes wieder aufgeregt, und die Folge dieser Agitation
war eine Menge Adressen, aus denen man jedoch keinen allgemein aus-
gesprochenen Wunsch formuliren konnte.

Das Gesetz vom Jahre 1806 sprach von „christlichen Tugenden", der
Entwurf van Rheenen nicht. Man spiegelte dem Volk vor, die Liberalen
wollten unchristliche Schulen haben, um damit das Christenthum zu beseitigen.
Das war dem religiösen Sinn der Holländer, die mit dem Geiste des Ge¬
setzes vom Jahre 1806 zufrieden gewesen waren, und die Segnungen des¬
selben kennen gelernt hatten, zu arg. Daher rührte der Petitionensturm.
Einige Adressen verlangten Confessionsschulen, andere allgemein christliche,
und wieder andere besondere Schulen für die Jsraeliten. Hauptsächlich schien
aber der Geist des Volkes durch Auslassung des Passus „christliche Tugenden"
in Aufregung gebracht worden zu sein.

Das Cabinet van Rheenen. seiner Ueberzeugung treu bleibend, trat ab,
und das Ministerium Simons-van der Brugghen wurde sein Erbe. Von
diesem erwartete die ultra-orthodoxe Partei — oder besser gesagt die christ-
lich-nationale Partei des Herrn Groen van Prinsterer —ihr Heil; gehörten
doch die Hauptpersonen des Cabinets ihr an. Sie wurde indessen gründlich
enttäuscht, da das von dem Cabinet mit der Majorität der Kammer nun¬
mehr vereinbarte Gesetz von dem Entwurf van Rheenen nur durch Hinzu¬
fügung des Ausdrucks „christliche Tugenden" abwich.

Die „christlich-nationale Partei" hatte sich beim Concordatsstreite mit
den Conservativen zum Umsturz des Ministeriums Thorbecke vereinigt, und
Herr Groen hatte gehofft, daß seine Partei zur Belohnung für ihre Hülfe
gegen Thorbecke jetzt durch die Conservativen in der Schulfrage unterstützt
werden würde. Aber diese Conservativen verließen ihre bisherigen Freunde
und stimmten mit Liberalen und Katholiken für die neutrale Schule. Das
Gesetz wurde mit 47 gegen 13 Stimmen in der zweiten Kammer angenom¬
men. Die Artikel, worin die Neutralität der Schule ausgesprochen ist, lauten
jetzt folgendermaßen:

„§. 16. In jeder Gemeinde wird der Elementarunterricht in einer der
Bevölkerung und dem Bedürfniß entsprechenden Anzahl Schulen ertheilt, die
allen Kindern ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses zugänglich sind.

§. 23. Die Schule bezweckt, die Verstandeskräfte der Kinder durch Unter¬
richt in zweckmäßigen und nützlichen Kenntnissen zu entwickeln und dieselben
zu allen christlichen und bürgerlichen Tugenden zu erziehen.

Der Lehrer vermeidet Alles zu lehren, zu thun oder zu lassen, was gegen
die Achtung, die den religiösen Ansichten Andersdenkender gebührt, streitet.

Der Religionsunterricht wird den kirchlichen Genossenschaften überlassen.


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[0177] diese Auffassung wurden die seit dem Concordatsstreite noch nichtberuhigten Gemüther des Volkes wieder aufgeregt, und die Folge dieser Agitation war eine Menge Adressen, aus denen man jedoch keinen allgemein aus- gesprochenen Wunsch formuliren konnte. Das Gesetz vom Jahre 1806 sprach von „christlichen Tugenden", der Entwurf van Rheenen nicht. Man spiegelte dem Volk vor, die Liberalen wollten unchristliche Schulen haben, um damit das Christenthum zu beseitigen. Das war dem religiösen Sinn der Holländer, die mit dem Geiste des Ge¬ setzes vom Jahre 1806 zufrieden gewesen waren, und die Segnungen des¬ selben kennen gelernt hatten, zu arg. Daher rührte der Petitionensturm. Einige Adressen verlangten Confessionsschulen, andere allgemein christliche, und wieder andere besondere Schulen für die Jsraeliten. Hauptsächlich schien aber der Geist des Volkes durch Auslassung des Passus „christliche Tugenden" in Aufregung gebracht worden zu sein. Das Cabinet van Rheenen. seiner Ueberzeugung treu bleibend, trat ab, und das Ministerium Simons-van der Brugghen wurde sein Erbe. Von diesem erwartete die ultra-orthodoxe Partei — oder besser gesagt die christ- lich-nationale Partei des Herrn Groen van Prinsterer —ihr Heil; gehörten doch die Hauptpersonen des Cabinets ihr an. Sie wurde indessen gründlich enttäuscht, da das von dem Cabinet mit der Majorität der Kammer nun¬ mehr vereinbarte Gesetz von dem Entwurf van Rheenen nur durch Hinzu¬ fügung des Ausdrucks „christliche Tugenden" abwich. Die „christlich-nationale Partei" hatte sich beim Concordatsstreite mit den Conservativen zum Umsturz des Ministeriums Thorbecke vereinigt, und Herr Groen hatte gehofft, daß seine Partei zur Belohnung für ihre Hülfe gegen Thorbecke jetzt durch die Conservativen in der Schulfrage unterstützt werden würde. Aber diese Conservativen verließen ihre bisherigen Freunde und stimmten mit Liberalen und Katholiken für die neutrale Schule. Das Gesetz wurde mit 47 gegen 13 Stimmen in der zweiten Kammer angenom¬ men. Die Artikel, worin die Neutralität der Schule ausgesprochen ist, lauten jetzt folgendermaßen: „§. 16. In jeder Gemeinde wird der Elementarunterricht in einer der Bevölkerung und dem Bedürfniß entsprechenden Anzahl Schulen ertheilt, die allen Kindern ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses zugänglich sind. §. 23. Die Schule bezweckt, die Verstandeskräfte der Kinder durch Unter¬ richt in zweckmäßigen und nützlichen Kenntnissen zu entwickeln und dieselben zu allen christlichen und bürgerlichen Tugenden zu erziehen. Der Lehrer vermeidet Alles zu lehren, zu thun oder zu lassen, was gegen die Achtung, die den religiösen Ansichten Andersdenkender gebührt, streitet. Der Religionsunterricht wird den kirchlichen Genossenschaften überlassen. Grenzboten II. 18K9. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/177>, abgerufen am 24.07.2024.