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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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nahmen unseren Weg über den neu angelegten Corso Vittorio Emanuele, der
sich im Bogen an der mittleren Höhe der alten Lava hinzieht, welche Neapel
auf der Landseite einschließt. Er führt von Piedigrotta (vor der Grotte
des Postlipo, welche jene Lava durchschneidet) bis unter die Mauern von
Se. Elmo und wird nach und nach auf beiden Seiten mit neuen Palazzi's
besetzt. Die Regierung hat ihn angelegt, um für die unglücklich eingeengte
Stadt eine neue Terrasse und damit dem armen Volke mehr Raum zu ge¬
winnen. Er ist landschaftlich ungemein anziehend; von links ragt der mit
Cactus und Aloe bestandene Fels noch überall zwischen die Neubauten herein,
nach rechts übersieht man die Stadt und den Golf. Was ist das nun für
ein völlig anderer Anblick, als ihn eine nordische Stadt gewährt! Wenn bei
uns zwischen der Masse hochg'iMiger Häuser einmal ein einzelnes steht, das
im südlichen Stile gebaut ist, so kann das nicht deutlich und nicht voll¬
vollständig wirken; aber hier, wo eine ganz anders geartete Stadt innerhalb
einer fremden Landschaft vor uns liegt, wird man schnell gewahr, was es
mit dem Charakter der beiden Architeeturstile auf sich hat, und wie deut¬
lich auch die Baukunst zu reden vermag. Sucht man nach den Elementen,
welche dieselbe hier zur Anwendung bringt, so entdeckt man deren im Grunde
nur zwei, den rechten Winkel und den Bogen, diesen freilich häufig auch
schräg gedrückt, z. B. wenn er zum Unterbau von Treppen dient. Bei uns
kommt im Dache und in starken Ausladungen der schiefe Winkel in allen
Graden und der Spitzbogen, auch sonst mannigfache Schweifung vor. Beide
Stile sind in ihren wesentlichsten Stücken im Grunde durch das Klima und
den Charakter des zur Verfügung stehenden Materials bedingt: wir brauchen
des Schneefalls wegen hohe Dächer und können und müssen vielfach das
Holz zur Anwendung bringen, hier kann man der Dächer entbehren und ist,
was das Material betrifft, ausschließlich auf den Stein angewiesen. Aber
die hiesige Bauart hat sich durchaus näher an das Bedürfniß gehalten, das
sie befriedigen soll; die deutsche hat. weit darüber hinausgehend, zugleich ein
Inneres, eine geistige Stimmung auszudrücken sich bemüht. Das neapoli¬
tanische Haus, einzeln betrachtet, ist ein sehr einfacher und eigentlich recht
kahler Bau ohne Profilirung und ohne Schmuck; es ist ein Werk der Noth¬
wendigkeit und an sich nicht schön. Es ist ein Unterkommen für den Men¬
schen, nichts mehr; seine Linien halten sich dem Boden parallel, an dem der
Bewohner mit allen seinen Sinnen, mit seiner ganzen Existenz gefesselt ist.
Der deutsche Bau drückt Erhebung über den Boden aus, eine mystische Un¬
bestimmtheit, ein phantastisches Sehnen, eine gemüthliche und etwas schwer¬
fällige Ernsthaftigkeit. Indem er so aus dem Reiche der Nothwendigkeit in
das der Freiheit gelangte, war er viel eher, als der hiesige Naturbau, den
Veränderungen des individuellen Geschmacks und der Willkür, und nicht


nahmen unseren Weg über den neu angelegten Corso Vittorio Emanuele, der
sich im Bogen an der mittleren Höhe der alten Lava hinzieht, welche Neapel
auf der Landseite einschließt. Er führt von Piedigrotta (vor der Grotte
des Postlipo, welche jene Lava durchschneidet) bis unter die Mauern von
Se. Elmo und wird nach und nach auf beiden Seiten mit neuen Palazzi's
besetzt. Die Regierung hat ihn angelegt, um für die unglücklich eingeengte
Stadt eine neue Terrasse und damit dem armen Volke mehr Raum zu ge¬
winnen. Er ist landschaftlich ungemein anziehend; von links ragt der mit
Cactus und Aloe bestandene Fels noch überall zwischen die Neubauten herein,
nach rechts übersieht man die Stadt und den Golf. Was ist das nun für
ein völlig anderer Anblick, als ihn eine nordische Stadt gewährt! Wenn bei
uns zwischen der Masse hochg'iMiger Häuser einmal ein einzelnes steht, das
im südlichen Stile gebaut ist, so kann das nicht deutlich und nicht voll¬
vollständig wirken; aber hier, wo eine ganz anders geartete Stadt innerhalb
einer fremden Landschaft vor uns liegt, wird man schnell gewahr, was es
mit dem Charakter der beiden Architeeturstile auf sich hat, und wie deut¬
lich auch die Baukunst zu reden vermag. Sucht man nach den Elementen,
welche dieselbe hier zur Anwendung bringt, so entdeckt man deren im Grunde
nur zwei, den rechten Winkel und den Bogen, diesen freilich häufig auch
schräg gedrückt, z. B. wenn er zum Unterbau von Treppen dient. Bei uns
kommt im Dache und in starken Ausladungen der schiefe Winkel in allen
Graden und der Spitzbogen, auch sonst mannigfache Schweifung vor. Beide
Stile sind in ihren wesentlichsten Stücken im Grunde durch das Klima und
den Charakter des zur Verfügung stehenden Materials bedingt: wir brauchen
des Schneefalls wegen hohe Dächer und können und müssen vielfach das
Holz zur Anwendung bringen, hier kann man der Dächer entbehren und ist,
was das Material betrifft, ausschließlich auf den Stein angewiesen. Aber
die hiesige Bauart hat sich durchaus näher an das Bedürfniß gehalten, das
sie befriedigen soll; die deutsche hat. weit darüber hinausgehend, zugleich ein
Inneres, eine geistige Stimmung auszudrücken sich bemüht. Das neapoli¬
tanische Haus, einzeln betrachtet, ist ein sehr einfacher und eigentlich recht
kahler Bau ohne Profilirung und ohne Schmuck; es ist ein Werk der Noth¬
wendigkeit und an sich nicht schön. Es ist ein Unterkommen für den Men¬
schen, nichts mehr; seine Linien halten sich dem Boden parallel, an dem der
Bewohner mit allen seinen Sinnen, mit seiner ganzen Existenz gefesselt ist.
Der deutsche Bau drückt Erhebung über den Boden aus, eine mystische Un¬
bestimmtheit, ein phantastisches Sehnen, eine gemüthliche und etwas schwer¬
fällige Ernsthaftigkeit. Indem er so aus dem Reiche der Nothwendigkeit in
das der Freiheit gelangte, war er viel eher, als der hiesige Naturbau, den
Veränderungen des individuellen Geschmacks und der Willkür, und nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/354>, abgerufen am 28.09.2024.