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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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weniger den Einwirkungen einer ganzen Zeitrichtung preisgegeben, sodaß wir
schließlich zu der größsten Mannigfaltigkeit von Stilarten gelangt sind.

Die hiesige Bauart ist dagegen viel constanter, und man würde heut¬
zutage wahrscheinlich gar nicht von der pompejanischen Art und Weise ab¬
gewichen sein, die man ja in allem Wesentlichen beibehalten hat, wenn nicht
die Uebervölkerung der Küsten durchaus in die Höhe zu gehen gedrängt
hätte. Auch läßt sich ein anderer wichtiger Unterschied zwischen damals und
jetzt nicht verkennen, aber er liegt nicht in den architektonischen Elementen.
Der Pompejaner schmückte seine Höfe, wie er konnte, aufs zierlichste mit Wand¬
gemälden und Statuen aus; heute läßt man die offenen Räume ungeschmückt,
und in den unbehaglichen Zimmern zeigt man mehr den Reichthum, als den
Geschmack, in vergoldeten Möbeln. Dieser Unterschied bezeichnet aber keine
neue geistige Richtung, sondern nur ein Sinken der Production innerhalb
der alten. Auch ehedem überließ man sich derselben ^unbefangenen Lust am
Leben, mit derselben Naivetät und ohne sich Mi Gedanken zu machen; aber
man wußte die freudige Auffassung des Daseins zugleich künstlerisch aus¬
zudrücken, man verstand den Genuß zu veredeln. Jetzt hat die Production
aufgehört und nur die Sorglosigkeit ist geblieben, das Leben in den Tag
hinein.

Nun gewährt Neapel aber doch ein unvergleichlich schönes Bild. Dies
liegt an verschiedenen anderen begleitenden Umständen. Zunächst sind die
Häuser im Grundriß immerhin noch mannigfaltiger als im Aufriß, sodaß die
Monotonie doch durch mancherlei Uebereckstellungen unterbrochen wird. Dann
die landschaftlichen Linien, welchen die Stadt, den Berg hinausgelehnt folgen
muß. und die sie mit ihren stachen Dächern so kräftig wiedergibt! Und
je höher sie hinaufsteigt, desto breiter und malerischer tritt der grau schim¬
mernde, phantastisch zerklüftete Boden mit seinen Agaven Aderer baumhoher
Blüthenstengel wie ein vielarmiger Kandelaber geformt ist), seinen Hangen¬
den Ranken, seinen Pinien zwischen die Gebäude hinein; und je steiler der
Fels wird, desto wuchtiger werden die durch hohe Bogen gestützten Futter¬
mauern, welche den schmalen Grund, auf dem die Villen hinausgebaut sind,
festzuhalten haben. Darüber der herrliche tiefblaue Himmel, von dem sich
jeder Gegenstand so deutlich abhebt, und gar Abends, wenn die Sonne hinter
dem Posilipo verschwindet, ein unbeschreiblicher golden violetter Ton über
dem ganzen Bilde, und alle Fenster wie in einer plötzlichen Illumination
einige Augenblicke erglänzend; davor das Meer, dessen durchsichtiges Grün
von den mannigfachsten Reflexen überschimmert ist -- das ist freilich von dem
Schönsten, was die Erde unseren Augen bietet. Endlich muß auch der Zu¬
stand der Vernachlässigung und des permanenten Verfalles, in welchem sich
die meisten Gebäude befinden, indirect die Wirkung des Ganzen verstärken;


weniger den Einwirkungen einer ganzen Zeitrichtung preisgegeben, sodaß wir
schließlich zu der größsten Mannigfaltigkeit von Stilarten gelangt sind.

Die hiesige Bauart ist dagegen viel constanter, und man würde heut¬
zutage wahrscheinlich gar nicht von der pompejanischen Art und Weise ab¬
gewichen sein, die man ja in allem Wesentlichen beibehalten hat, wenn nicht
die Uebervölkerung der Küsten durchaus in die Höhe zu gehen gedrängt
hätte. Auch läßt sich ein anderer wichtiger Unterschied zwischen damals und
jetzt nicht verkennen, aber er liegt nicht in den architektonischen Elementen.
Der Pompejaner schmückte seine Höfe, wie er konnte, aufs zierlichste mit Wand¬
gemälden und Statuen aus; heute läßt man die offenen Räume ungeschmückt,
und in den unbehaglichen Zimmern zeigt man mehr den Reichthum, als den
Geschmack, in vergoldeten Möbeln. Dieser Unterschied bezeichnet aber keine
neue geistige Richtung, sondern nur ein Sinken der Production innerhalb
der alten. Auch ehedem überließ man sich derselben ^unbefangenen Lust am
Leben, mit derselben Naivetät und ohne sich Mi Gedanken zu machen; aber
man wußte die freudige Auffassung des Daseins zugleich künstlerisch aus¬
zudrücken, man verstand den Genuß zu veredeln. Jetzt hat die Production
aufgehört und nur die Sorglosigkeit ist geblieben, das Leben in den Tag
hinein.

Nun gewährt Neapel aber doch ein unvergleichlich schönes Bild. Dies
liegt an verschiedenen anderen begleitenden Umständen. Zunächst sind die
Häuser im Grundriß immerhin noch mannigfaltiger als im Aufriß, sodaß die
Monotonie doch durch mancherlei Uebereckstellungen unterbrochen wird. Dann
die landschaftlichen Linien, welchen die Stadt, den Berg hinausgelehnt folgen
muß. und die sie mit ihren stachen Dächern so kräftig wiedergibt! Und
je höher sie hinaufsteigt, desto breiter und malerischer tritt der grau schim¬
mernde, phantastisch zerklüftete Boden mit seinen Agaven Aderer baumhoher
Blüthenstengel wie ein vielarmiger Kandelaber geformt ist), seinen Hangen¬
den Ranken, seinen Pinien zwischen die Gebäude hinein; und je steiler der
Fels wird, desto wuchtiger werden die durch hohe Bogen gestützten Futter¬
mauern, welche den schmalen Grund, auf dem die Villen hinausgebaut sind,
festzuhalten haben. Darüber der herrliche tiefblaue Himmel, von dem sich
jeder Gegenstand so deutlich abhebt, und gar Abends, wenn die Sonne hinter
dem Posilipo verschwindet, ein unbeschreiblicher golden violetter Ton über
dem ganzen Bilde, und alle Fenster wie in einer plötzlichen Illumination
einige Augenblicke erglänzend; davor das Meer, dessen durchsichtiges Grün
von den mannigfachsten Reflexen überschimmert ist — das ist freilich von dem
Schönsten, was die Erde unseren Augen bietet. Endlich muß auch der Zu¬
stand der Vernachlässigung und des permanenten Verfalles, in welchem sich
die meisten Gebäude befinden, indirect die Wirkung des Ganzen verstärken;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/355>, abgerufen am 28.09.2024.