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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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haben, das beliebte Boggia, schlendern zwischen den Wagen durch, und nie
werden sie beschädigt. Da stellt der Nudelfabrikant seine Maccaroni, der
Ziegler seine Ziegel zum Trocknen recht in die Straße hinein -- aber nie
wird auch nur ein Stück umgeworfen oder verletzt. Die Neapolitaner sind
ungemein gewandt und aufmerksam. Alles ist in beständiger gegenseitig
nachgebender Bewegung, Jeder sucht sich, wie er kann, seinen Weg. Selbst
die von Vermummter geleiteten schaurigen Leichenzuge müssen sich durch¬
winden, wie es eben gehen will; eine besondere Gasse wird ihnen nicht ge¬
macht, Geschrei und Musik hören vor ihnen nicht auf.

Und in solcher Weise wälzt sich der Strom des täglichen Lebens von
Portici her am Handelshafen, dann am Kriegshafen hin bis zum Quai
Santa Lucia, mit reichlichem Zu- und Abfluß durch die Gassen, die in das
Innere der Stadt nach dem Toledo hinaufführen. Santa Lucia hat seinen
eigenen Charakter; es ist die eine große Station der Fischer, die hier ans
Land und sogleich zu Verkauf bringen, was das Meer ihnen bescheert hat,
den.ganzen Inbegriff der trutti all all-s: Austern, Fische, Hummer, Muscheln
aller Art. In Sommernächten entwickelt sich hier an einer Schwefelquelle,
die sich hart am Ufer befindet, ein reger Verkehr.




Indem uns auf vielen Wanderungen im Innern der Stadt und am
Hafen die hiesige Art zu leben, zu genießen und zu arbeiten allmälig ver¬
trauter wurde, machten wir die Wahrnehmung von zwei wichtigen Verhält¬
nissen, die das Leben und Treiben Neapels charakterisiren. Zunächst fiel
uns auf, daß dasselbe in weit geringerem Grade durch die maritime Lage
der Stadt bestimmt wird, als man denken sollte.

Betritt man Handelsstädte wie Bremen, Hamburg, Marseille vom
Binnenlande aus, so merkt man schon an den ersten Häusern, daß man sich
in einer Seestadt befindet. Ausländische Gewächse und Muscheln, zierlich in
den Fenstern geordnet, fremdartige Matten und Schiffsmodelle in den Haus¬
fluren, der Oelfarbenglanz der wie die Schiffe stets frisch gemalten Häuschen,
Mastbäume mit Windfahnen in den Gärten, Papageicnkäfige in den Bäu¬
men hängend, das Ganze von leichtem Theerduft umflossen -- Alles das ver¬
kündet deutlich, die Nähe der See und zieht den Sinn mächtig in die Ferne
hinaus. Hier ist das durchaus anders; hier trägt nur der Strand einen
maritimen Charakter, und auch der nur obenhin. Die See- beherrscht das
Leben nicht, sie verschönert es nur; sie ist kaum mehr als eine angenehme
Zugabe. Sie ist in diesem schönen Golfe zu ruhig, um sich dem Menschen
aufzudrängen; Ebbe und Fluth ist kaum bemerkbar und die einzige kräftige
Bewegung bringt der Scirocco hinein. Man hat sich nicht gewohnt, die See


haben, das beliebte Boggia, schlendern zwischen den Wagen durch, und nie
werden sie beschädigt. Da stellt der Nudelfabrikant seine Maccaroni, der
Ziegler seine Ziegel zum Trocknen recht in die Straße hinein — aber nie
wird auch nur ein Stück umgeworfen oder verletzt. Die Neapolitaner sind
ungemein gewandt und aufmerksam. Alles ist in beständiger gegenseitig
nachgebender Bewegung, Jeder sucht sich, wie er kann, seinen Weg. Selbst
die von Vermummter geleiteten schaurigen Leichenzuge müssen sich durch¬
winden, wie es eben gehen will; eine besondere Gasse wird ihnen nicht ge¬
macht, Geschrei und Musik hören vor ihnen nicht auf.

Und in solcher Weise wälzt sich der Strom des täglichen Lebens von
Portici her am Handelshafen, dann am Kriegshafen hin bis zum Quai
Santa Lucia, mit reichlichem Zu- und Abfluß durch die Gassen, die in das
Innere der Stadt nach dem Toledo hinaufführen. Santa Lucia hat seinen
eigenen Charakter; es ist die eine große Station der Fischer, die hier ans
Land und sogleich zu Verkauf bringen, was das Meer ihnen bescheert hat,
den.ganzen Inbegriff der trutti all all-s: Austern, Fische, Hummer, Muscheln
aller Art. In Sommernächten entwickelt sich hier an einer Schwefelquelle,
die sich hart am Ufer befindet, ein reger Verkehr.




Indem uns auf vielen Wanderungen im Innern der Stadt und am
Hafen die hiesige Art zu leben, zu genießen und zu arbeiten allmälig ver¬
trauter wurde, machten wir die Wahrnehmung von zwei wichtigen Verhält¬
nissen, die das Leben und Treiben Neapels charakterisiren. Zunächst fiel
uns auf, daß dasselbe in weit geringerem Grade durch die maritime Lage
der Stadt bestimmt wird, als man denken sollte.

Betritt man Handelsstädte wie Bremen, Hamburg, Marseille vom
Binnenlande aus, so merkt man schon an den ersten Häusern, daß man sich
in einer Seestadt befindet. Ausländische Gewächse und Muscheln, zierlich in
den Fenstern geordnet, fremdartige Matten und Schiffsmodelle in den Haus¬
fluren, der Oelfarbenglanz der wie die Schiffe stets frisch gemalten Häuschen,
Mastbäume mit Windfahnen in den Gärten, Papageicnkäfige in den Bäu¬
men hängend, das Ganze von leichtem Theerduft umflossen — Alles das ver¬
kündet deutlich, die Nähe der See und zieht den Sinn mächtig in die Ferne
hinaus. Hier ist das durchaus anders; hier trägt nur der Strand einen
maritimen Charakter, und auch der nur obenhin. Die See- beherrscht das
Leben nicht, sie verschönert es nur; sie ist kaum mehr als eine angenehme
Zugabe. Sie ist in diesem schönen Golfe zu ruhig, um sich dem Menschen
aufzudrängen; Ebbe und Fluth ist kaum bemerkbar und die einzige kräftige
Bewegung bringt der Scirocco hinein. Man hat sich nicht gewohnt, die See


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/276>, abgerufen am 20.10.2024.