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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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das Werk, das in ihr getrieben wird, ist Culturarbeit; unsere Bezeichnung
für sie ist: das Subject jetzt als abstracte Reflexion sich selbst
zum Zwecke, Unter diese Rubrik können scheinbar ganz disparate Erschei¬
nungen aufgenommen werden. Im Pietismus ist das sich in sich vertiefende
Gewissen seinen Bedenken über den gar zu einfachen Weg der lutherischen
Heilsgewißheit nachgegangen und hat nach verständigen Kriterien für die er¬
langte Rechtfertigung vor Gott gefragt. In der Aufklärung, die in Eng¬
land negativ, radical, in Deutschland gründlicher und was neue Gesichtspunkte
betrifft, schöpferischer auftritt, hat der endliche Verstand seine logische und
materielle Befriedigung gesucht. Logisch hat er sich als Deismus und Ra¬
tionalismus durch die Aufstellung und Durchführung des einfachen Dilemma
bethätigt: was die positive Religion bietet, ist entweder das Nämliche, was
ich von mir aus auch oder noch besser weiß, also überflüssig, oder Etwas,
was meinem Wissen widerspricht, also schädlich. Materiell aber hat er seine
subjectiv-endlichen Zwecke, seine Glückseligkeit und seine nothdürftige Recht¬
schaffenheit und Gewisfensberuhigung auf Kosten der ganzen Unendlichkeit der
Menschenbestimmung, welche die Reformation erschlossen hatte, verfolgt. Dieser
eigentlich materiellen Richtung sind aber auch anscheinend blos religiöse Er¬
scheinungen wie der Methodismus und die Brüdergemeinde verfallen: dort
das Experiment mit der Regulirung der sinnlichen Gefühle, hier das be¬
kannte Schwelgen in Empfindungen: beide Male wird der Eudämonismus in
die Religion verpflanzt.

Es kann gar keine Frage sein, daß schon mit Kant, diesem Restaurator
der objectiven Christenaufgabe des Menschen, in seinem Ideal der Gott
wohlgefälligen Menschheit, die dritte Periode anfängt und Lessing, Her¬
der u. A. als seine Vorläufer aufzufassen sind. Wir möchten hier die Ueber¬
schrift: Versöhnung der Culturarbeit und der ethischreligiösen
Tiefe des Glaubens vorschlagen. Es ziemt sich, wie es auch der Ver¬
fasser thut, die letzte Bedeutung auf diesem Gebiete nicht der scheidenden,
sondern der combinirenden Kraft, also nicht den Philosophen, sondern vorläufig
Schletermacher'n zuzusprechen. Er hat wenigstens die Parole ausgegeben. Wie
Börne von Jean Paul rühmt, er habe zum ersten Mal wieder der Welt zu¬
gerufen: "du darfst es sagen, wenn du liebst", so hat Schleiermacher mit seinen
"Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" den religiösen
Funken in den Gemüthern angefacht, ermuthigt, Hunderten und Tausenden ins
Ohr gerufen: "du darfst beten, du darfst glauben!" Aber nicht zu vergessen,
daß er in seinein Dringen auf Selbständigkeit in der Religiosität, auf Frei¬
heit im Glauben, sowie in seiner Wiederaufrichtung, nicht wie Herr Dörner
meint, des Begriffs der Kirche, sondern des religiösen Gemeinwesens im
Contact mit der universellen, sittlichen Gemeinde, wesentliche Bedürfnisse des


das Werk, das in ihr getrieben wird, ist Culturarbeit; unsere Bezeichnung
für sie ist: das Subject jetzt als abstracte Reflexion sich selbst
zum Zwecke, Unter diese Rubrik können scheinbar ganz disparate Erschei¬
nungen aufgenommen werden. Im Pietismus ist das sich in sich vertiefende
Gewissen seinen Bedenken über den gar zu einfachen Weg der lutherischen
Heilsgewißheit nachgegangen und hat nach verständigen Kriterien für die er¬
langte Rechtfertigung vor Gott gefragt. In der Aufklärung, die in Eng¬
land negativ, radical, in Deutschland gründlicher und was neue Gesichtspunkte
betrifft, schöpferischer auftritt, hat der endliche Verstand seine logische und
materielle Befriedigung gesucht. Logisch hat er sich als Deismus und Ra¬
tionalismus durch die Aufstellung und Durchführung des einfachen Dilemma
bethätigt: was die positive Religion bietet, ist entweder das Nämliche, was
ich von mir aus auch oder noch besser weiß, also überflüssig, oder Etwas,
was meinem Wissen widerspricht, also schädlich. Materiell aber hat er seine
subjectiv-endlichen Zwecke, seine Glückseligkeit und seine nothdürftige Recht¬
schaffenheit und Gewisfensberuhigung auf Kosten der ganzen Unendlichkeit der
Menschenbestimmung, welche die Reformation erschlossen hatte, verfolgt. Dieser
eigentlich materiellen Richtung sind aber auch anscheinend blos religiöse Er¬
scheinungen wie der Methodismus und die Brüdergemeinde verfallen: dort
das Experiment mit der Regulirung der sinnlichen Gefühle, hier das be¬
kannte Schwelgen in Empfindungen: beide Male wird der Eudämonismus in
die Religion verpflanzt.

Es kann gar keine Frage sein, daß schon mit Kant, diesem Restaurator
der objectiven Christenaufgabe des Menschen, in seinem Ideal der Gott
wohlgefälligen Menschheit, die dritte Periode anfängt und Lessing, Her¬
der u. A. als seine Vorläufer aufzufassen sind. Wir möchten hier die Ueber¬
schrift: Versöhnung der Culturarbeit und der ethischreligiösen
Tiefe des Glaubens vorschlagen. Es ziemt sich, wie es auch der Ver¬
fasser thut, die letzte Bedeutung auf diesem Gebiete nicht der scheidenden,
sondern der combinirenden Kraft, also nicht den Philosophen, sondern vorläufig
Schletermacher'n zuzusprechen. Er hat wenigstens die Parole ausgegeben. Wie
Börne von Jean Paul rühmt, er habe zum ersten Mal wieder der Welt zu¬
gerufen: „du darfst es sagen, wenn du liebst", so hat Schleiermacher mit seinen
„Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" den religiösen
Funken in den Gemüthern angefacht, ermuthigt, Hunderten und Tausenden ins
Ohr gerufen: „du darfst beten, du darfst glauben!" Aber nicht zu vergessen,
daß er in seinein Dringen auf Selbständigkeit in der Religiosität, auf Frei¬
heit im Glauben, sowie in seiner Wiederaufrichtung, nicht wie Herr Dörner
meint, des Begriffs der Kirche, sondern des religiösen Gemeinwesens im
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[0187] das Werk, das in ihr getrieben wird, ist Culturarbeit; unsere Bezeichnung für sie ist: das Subject jetzt als abstracte Reflexion sich selbst zum Zwecke, Unter diese Rubrik können scheinbar ganz disparate Erschei¬ nungen aufgenommen werden. Im Pietismus ist das sich in sich vertiefende Gewissen seinen Bedenken über den gar zu einfachen Weg der lutherischen Heilsgewißheit nachgegangen und hat nach verständigen Kriterien für die er¬ langte Rechtfertigung vor Gott gefragt. In der Aufklärung, die in Eng¬ land negativ, radical, in Deutschland gründlicher und was neue Gesichtspunkte betrifft, schöpferischer auftritt, hat der endliche Verstand seine logische und materielle Befriedigung gesucht. Logisch hat er sich als Deismus und Ra¬ tionalismus durch die Aufstellung und Durchführung des einfachen Dilemma bethätigt: was die positive Religion bietet, ist entweder das Nämliche, was ich von mir aus auch oder noch besser weiß, also überflüssig, oder Etwas, was meinem Wissen widerspricht, also schädlich. Materiell aber hat er seine subjectiv-endlichen Zwecke, seine Glückseligkeit und seine nothdürftige Recht¬ schaffenheit und Gewisfensberuhigung auf Kosten der ganzen Unendlichkeit der Menschenbestimmung, welche die Reformation erschlossen hatte, verfolgt. Dieser eigentlich materiellen Richtung sind aber auch anscheinend blos religiöse Er¬ scheinungen wie der Methodismus und die Brüdergemeinde verfallen: dort das Experiment mit der Regulirung der sinnlichen Gefühle, hier das be¬ kannte Schwelgen in Empfindungen: beide Male wird der Eudämonismus in die Religion verpflanzt. Es kann gar keine Frage sein, daß schon mit Kant, diesem Restaurator der objectiven Christenaufgabe des Menschen, in seinem Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit, die dritte Periode anfängt und Lessing, Her¬ der u. A. als seine Vorläufer aufzufassen sind. Wir möchten hier die Ueber¬ schrift: Versöhnung der Culturarbeit und der ethischreligiösen Tiefe des Glaubens vorschlagen. Es ziemt sich, wie es auch der Ver¬ fasser thut, die letzte Bedeutung auf diesem Gebiete nicht der scheidenden, sondern der combinirenden Kraft, also nicht den Philosophen, sondern vorläufig Schletermacher'n zuzusprechen. Er hat wenigstens die Parole ausgegeben. Wie Börne von Jean Paul rühmt, er habe zum ersten Mal wieder der Welt zu¬ gerufen: „du darfst es sagen, wenn du liebst", so hat Schleiermacher mit seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" den religiösen Funken in den Gemüthern angefacht, ermuthigt, Hunderten und Tausenden ins Ohr gerufen: „du darfst beten, du darfst glauben!" Aber nicht zu vergessen, daß er in seinein Dringen auf Selbständigkeit in der Religiosität, auf Frei¬ heit im Glauben, sowie in seiner Wiederaufrichtung, nicht wie Herr Dörner meint, des Begriffs der Kirche, sondern des religiösen Gemeinwesens im Contact mit der universellen, sittlichen Gemeinde, wesentliche Bedürfnisse des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/187>, abgerufen am 28.09.2024.