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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Keine glückliche Fassung, da das Sonderleben der Confessionen theils nicht
erst jetzt, sondern schon mit ihrer gesonderten Entstehung seinen Anfang ge¬
nommen, theils sich während des Alles nivellirenden Rationalismus, der in
den Dornerschen Zeitraum hereinfällt, fast aufgelöst hat, überhaupt die sozu¬
sagen stammlich nationale Ausprägung des Protestantismus in dem lutheri¬
schen und reformirten Lehrtypus mehr in die Coordination des Streites, als
in die Succession der Zeit fällt. Wo bleibt denn aber in der obigen Perio¬
denbezeichnung die Rücksicht auf das Hauptmerkmal wenigstens des 18ten
Jahrhunderts? Fast sieht's aus, als ob Verfasser sich scheute, die irreligiöse
Aufklärung, oder wie er diese nicht unrichtig nennt, den siegenden Subjectivis-
nms, in die Fortentwicklung der protestantischen Theologie aufzunehmen.
Aber es hilft Nichts; sie muß hinein, weil sie von Hause aus darin ist. Es
kommt nur freilich hart an, die nüchterne Kälte der Aufklärung und ihre
profane oder ordinäre Betrachtung der Dinge auf eine von Luther's frommer
Innigkeit und Glaubenswärme ausgehende Linie zu setzen. Aber man bedenke,
daß die Reformation durchaus nicht blos Reproduction. Rückkehr zum Evan¬
gelium von der Sündenvergebung, sondern wesentlich auch Produktion, erste
geistige und gemüthliche Bethätigung des "ich will selbst dabei sein" gewesen
ist. Man wird dann einsehen, daß die Reformation nichts Andres, als das
intensivste Erwachen der Selbstheit und des Selbstbewußtseins der Menschheit,
ein Negewerden im Centralorgan des Gewissens bedeutet, dem ein Zustch-
kommen des Geistes auf den peripherischen Gebieten (Zeugen davon sind das
Jahrhundert der Entdeckungen, das Besitzergreifen der ganzen Erde, das
Innewerden des Planeten von seiner Stellung im Weltsystem, die Ergänzung
der Culturbewegung durch das wiedererweckte Alterthum) nicht blos zufälliger
We'1? parallel geht. Es ließe sich leicht zeigen, daß das Agens und das er¬
reichte Ziel Luther's nichts Anderes gewesen ist. als die volle Ausprägung der
edlen d. h. sittlichen Selbstheit, die Sättigung und Kräftigung der ganzen
ein i objective Bedeutung ansprechenden Persönlichkeit. Was er implicite
besaß, das hat die Geschichte nach ihm explieits sich erst erringen müssen.
Wenn anfangs das Ich, intensiv reich, extensiv arm, nur als religiöses sich
als Selbstzweck gesetzt hat, so kam es mit der Erweiterung seines Gesichts-
kreises unter den Fortschritten der Culturentwicklung dazu, den Anspruch, den
das reformatorische Bewußtsein erhoben hat: "ich will selbst dabei sein", auch
für sich, das geistig mündigere, an Verstand entwickeltere zu erheben. Ein
Fortschritt des Selbstbewußtseins, mit dem im Mindesten nicht die Verarmung
desselben an idealem Gehalte gegenüber der Selbstgewißheit des naivreligiösen
Subjects geleugnet werden soll. Diese Verarmung ists, die mit Nothwen¬
digkeit die dritte Periode fordert. Der Factor aber, der in der zweiten Pe¬
riode thätig wird, ist der reflectirende Verstand oder die verständige Reflexion;


Keine glückliche Fassung, da das Sonderleben der Confessionen theils nicht
erst jetzt, sondern schon mit ihrer gesonderten Entstehung seinen Anfang ge¬
nommen, theils sich während des Alles nivellirenden Rationalismus, der in
den Dornerschen Zeitraum hereinfällt, fast aufgelöst hat, überhaupt die sozu¬
sagen stammlich nationale Ausprägung des Protestantismus in dem lutheri¬
schen und reformirten Lehrtypus mehr in die Coordination des Streites, als
in die Succession der Zeit fällt. Wo bleibt denn aber in der obigen Perio¬
denbezeichnung die Rücksicht auf das Hauptmerkmal wenigstens des 18ten
Jahrhunderts? Fast sieht's aus, als ob Verfasser sich scheute, die irreligiöse
Aufklärung, oder wie er diese nicht unrichtig nennt, den siegenden Subjectivis-
nms, in die Fortentwicklung der protestantischen Theologie aufzunehmen.
Aber es hilft Nichts; sie muß hinein, weil sie von Hause aus darin ist. Es
kommt nur freilich hart an, die nüchterne Kälte der Aufklärung und ihre
profane oder ordinäre Betrachtung der Dinge auf eine von Luther's frommer
Innigkeit und Glaubenswärme ausgehende Linie zu setzen. Aber man bedenke,
daß die Reformation durchaus nicht blos Reproduction. Rückkehr zum Evan¬
gelium von der Sündenvergebung, sondern wesentlich auch Produktion, erste
geistige und gemüthliche Bethätigung des „ich will selbst dabei sein" gewesen
ist. Man wird dann einsehen, daß die Reformation nichts Andres, als das
intensivste Erwachen der Selbstheit und des Selbstbewußtseins der Menschheit,
ein Negewerden im Centralorgan des Gewissens bedeutet, dem ein Zustch-
kommen des Geistes auf den peripherischen Gebieten (Zeugen davon sind das
Jahrhundert der Entdeckungen, das Besitzergreifen der ganzen Erde, das
Innewerden des Planeten von seiner Stellung im Weltsystem, die Ergänzung
der Culturbewegung durch das wiedererweckte Alterthum) nicht blos zufälliger
We'1? parallel geht. Es ließe sich leicht zeigen, daß das Agens und das er¬
reichte Ziel Luther's nichts Anderes gewesen ist. als die volle Ausprägung der
edlen d. h. sittlichen Selbstheit, die Sättigung und Kräftigung der ganzen
ein i objective Bedeutung ansprechenden Persönlichkeit. Was er implicite
besaß, das hat die Geschichte nach ihm explieits sich erst erringen müssen.
Wenn anfangs das Ich, intensiv reich, extensiv arm, nur als religiöses sich
als Selbstzweck gesetzt hat, so kam es mit der Erweiterung seines Gesichts-
kreises unter den Fortschritten der Culturentwicklung dazu, den Anspruch, den
das reformatorische Bewußtsein erhoben hat: „ich will selbst dabei sein", auch
für sich, das geistig mündigere, an Verstand entwickeltere zu erheben. Ein
Fortschritt des Selbstbewußtseins, mit dem im Mindesten nicht die Verarmung
desselben an idealem Gehalte gegenüber der Selbstgewißheit des naivreligiösen
Subjects geleugnet werden soll. Diese Verarmung ists, die mit Nothwen¬
digkeit die dritte Periode fordert. Der Factor aber, der in der zweiten Pe¬
riode thätig wird, ist der reflectirende Verstand oder die verständige Reflexion;


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[0186] Keine glückliche Fassung, da das Sonderleben der Confessionen theils nicht erst jetzt, sondern schon mit ihrer gesonderten Entstehung seinen Anfang ge¬ nommen, theils sich während des Alles nivellirenden Rationalismus, der in den Dornerschen Zeitraum hereinfällt, fast aufgelöst hat, überhaupt die sozu¬ sagen stammlich nationale Ausprägung des Protestantismus in dem lutheri¬ schen und reformirten Lehrtypus mehr in die Coordination des Streites, als in die Succession der Zeit fällt. Wo bleibt denn aber in der obigen Perio¬ denbezeichnung die Rücksicht auf das Hauptmerkmal wenigstens des 18ten Jahrhunderts? Fast sieht's aus, als ob Verfasser sich scheute, die irreligiöse Aufklärung, oder wie er diese nicht unrichtig nennt, den siegenden Subjectivis- nms, in die Fortentwicklung der protestantischen Theologie aufzunehmen. Aber es hilft Nichts; sie muß hinein, weil sie von Hause aus darin ist. Es kommt nur freilich hart an, die nüchterne Kälte der Aufklärung und ihre profane oder ordinäre Betrachtung der Dinge auf eine von Luther's frommer Innigkeit und Glaubenswärme ausgehende Linie zu setzen. Aber man bedenke, daß die Reformation durchaus nicht blos Reproduction. Rückkehr zum Evan¬ gelium von der Sündenvergebung, sondern wesentlich auch Produktion, erste geistige und gemüthliche Bethätigung des „ich will selbst dabei sein" gewesen ist. Man wird dann einsehen, daß die Reformation nichts Andres, als das intensivste Erwachen der Selbstheit und des Selbstbewußtseins der Menschheit, ein Negewerden im Centralorgan des Gewissens bedeutet, dem ein Zustch- kommen des Geistes auf den peripherischen Gebieten (Zeugen davon sind das Jahrhundert der Entdeckungen, das Besitzergreifen der ganzen Erde, das Innewerden des Planeten von seiner Stellung im Weltsystem, die Ergänzung der Culturbewegung durch das wiedererweckte Alterthum) nicht blos zufälliger We'1? parallel geht. Es ließe sich leicht zeigen, daß das Agens und das er¬ reichte Ziel Luther's nichts Anderes gewesen ist. als die volle Ausprägung der edlen d. h. sittlichen Selbstheit, die Sättigung und Kräftigung der ganzen ein i objective Bedeutung ansprechenden Persönlichkeit. Was er implicite besaß, das hat die Geschichte nach ihm explieits sich erst erringen müssen. Wenn anfangs das Ich, intensiv reich, extensiv arm, nur als religiöses sich als Selbstzweck gesetzt hat, so kam es mit der Erweiterung seines Gesichts- kreises unter den Fortschritten der Culturentwicklung dazu, den Anspruch, den das reformatorische Bewußtsein erhoben hat: „ich will selbst dabei sein", auch für sich, das geistig mündigere, an Verstand entwickeltere zu erheben. Ein Fortschritt des Selbstbewußtseins, mit dem im Mindesten nicht die Verarmung desselben an idealem Gehalte gegenüber der Selbstgewißheit des naivreligiösen Subjects geleugnet werden soll. Diese Verarmung ists, die mit Nothwen¬ digkeit die dritte Periode fordert. Der Factor aber, der in der zweiten Pe¬ riode thätig wird, ist der reflectirende Verstand oder die verständige Reflexion;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/186>, abgerufen am 28.09.2024.