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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Demokratie als Missionäre der russischen Sache nach Wilna und Kowno ge¬
sandt worden waren und sich als die unbeschränkten Gebieter des Landes
fühlten, die Kaufliebhaber, die nach Litthauen und Samogitien kamen,
in der Regel höchst scheel ansahen und das Mögliche thaten, um denselben die
Niederlassung am Niemen oder der Jura zu erschweren und zu verleiden.
Sie fürchteten durch diese "Aristokraten" in ihrer "demokratischen" Thätigkeit
genirt und controllirt zu werden, .zumal viele von ihnen es darauf abgesehen
hatten, die herrenlos gewordenen polnischen Edelsitze selbst zu erwerben.
Erst in allerneuster Zeit, seit der General Potapow kaiserlicher Statthalter
der "nordwestlichen Gouvernements" (wie die samogitischen, lithauischen und
weißrussischen Provinzen officiell heißen) geworden, ist eine Wendung zum
besseren eingetreten und ein großer Theil jenes Auswurfs der russischen
Demokratie, den die Murawjew und Kaufmann zur "Pacification des
Landes" mitgebracht hatten, wieder entfernt und gleichzeitig dem gesetzlosen
und räuberischen Treiben der verwilderten Bauern ein fester Riegel vorge¬
schoben worden.

Höchst eigenthümlich-haben sich die Verhältnisse in dem nördlichen, an
Kurland grenzenden Theil Samogitiens und des anliegenden Gouvernements
Wilna gestaltet. Dieser Strich ist allmählich in das deutsche Kulturleben
gezogen worden und wird -- wenn keine gewaltsame Störung eintritt --
in einigen Jahrzehnten von Kurland kaum mehr zu unterscheiden sein. Von
Alters her sind die kurländischen Barone der Nachbarschaft gewohnt gewesen,
einen Theil ihrer Capitalien zum Ankauf lithauischer Güter zu verwenden
und ihre jüngeren Söhne auf denselben zu versorgen. So ist es geschehen,
daß der nördliche Strich der Gouvernements Wilna und Kowno zum größten
Theil in deutsche Hände übergegangen ist und durch deutsche Landwirthe
verwaltet wird. Fragt man nach den Namen der Gutsbesitzer dieser Ge¬
gend, so werden die bekannten Namen der Fürsten Lieven, der Hahn,
Haaren, Budberg, Bistram, Stempel u. s. w. genannt und die oberfläch¬
lichste Bekanntschaft mit den Besitzungen dieser Adelsfamilien genügt zu der
Ueberzeugung, daß dieselben die wirthschaftlichen Tugenden ihrer Heimath
mitzunehmen und zu verwerthen gewußt haben. Das Idiom, das die Bauern
dieses Grenzstrichs reden, ist dem lettischen so nah verwandt, daß die Ver¬
ständigung mit ihnen dem kurländischen Einwanderer keinerlei Schwierig¬
keiten bietet. Aehnlich steht es mit den Bodenverhältnissen und gewissen
landwirthschaftlichen Gewohnheiten, welche hüben und drüben ziemlich dieselben
sind. Und die kurländischen Barone, welche diese friedliche Eroberung Nord-
Samogitiens vollführten, sind nicht allein geblieben; sie nahmen bewährte
lettische Arbeitsaufseher, Wirthschaftsbeamte und Oberknechte aus der Hei-
wath mit, um an ihnen Bundesgenossen und Helfer im Kampfe gegen die


Demokratie als Missionäre der russischen Sache nach Wilna und Kowno ge¬
sandt worden waren und sich als die unbeschränkten Gebieter des Landes
fühlten, die Kaufliebhaber, die nach Litthauen und Samogitien kamen,
in der Regel höchst scheel ansahen und das Mögliche thaten, um denselben die
Niederlassung am Niemen oder der Jura zu erschweren und zu verleiden.
Sie fürchteten durch diese „Aristokraten" in ihrer „demokratischen" Thätigkeit
genirt und controllirt zu werden, .zumal viele von ihnen es darauf abgesehen
hatten, die herrenlos gewordenen polnischen Edelsitze selbst zu erwerben.
Erst in allerneuster Zeit, seit der General Potapow kaiserlicher Statthalter
der „nordwestlichen Gouvernements" (wie die samogitischen, lithauischen und
weißrussischen Provinzen officiell heißen) geworden, ist eine Wendung zum
besseren eingetreten und ein großer Theil jenes Auswurfs der russischen
Demokratie, den die Murawjew und Kaufmann zur „Pacification des
Landes" mitgebracht hatten, wieder entfernt und gleichzeitig dem gesetzlosen
und räuberischen Treiben der verwilderten Bauern ein fester Riegel vorge¬
schoben worden.

Höchst eigenthümlich-haben sich die Verhältnisse in dem nördlichen, an
Kurland grenzenden Theil Samogitiens und des anliegenden Gouvernements
Wilna gestaltet. Dieser Strich ist allmählich in das deutsche Kulturleben
gezogen worden und wird — wenn keine gewaltsame Störung eintritt —
in einigen Jahrzehnten von Kurland kaum mehr zu unterscheiden sein. Von
Alters her sind die kurländischen Barone der Nachbarschaft gewohnt gewesen,
einen Theil ihrer Capitalien zum Ankauf lithauischer Güter zu verwenden
und ihre jüngeren Söhne auf denselben zu versorgen. So ist es geschehen,
daß der nördliche Strich der Gouvernements Wilna und Kowno zum größten
Theil in deutsche Hände übergegangen ist und durch deutsche Landwirthe
verwaltet wird. Fragt man nach den Namen der Gutsbesitzer dieser Ge¬
gend, so werden die bekannten Namen der Fürsten Lieven, der Hahn,
Haaren, Budberg, Bistram, Stempel u. s. w. genannt und die oberfläch¬
lichste Bekanntschaft mit den Besitzungen dieser Adelsfamilien genügt zu der
Ueberzeugung, daß dieselben die wirthschaftlichen Tugenden ihrer Heimath
mitzunehmen und zu verwerthen gewußt haben. Das Idiom, das die Bauern
dieses Grenzstrichs reden, ist dem lettischen so nah verwandt, daß die Ver¬
ständigung mit ihnen dem kurländischen Einwanderer keinerlei Schwierig¬
keiten bietet. Aehnlich steht es mit den Bodenverhältnissen und gewissen
landwirthschaftlichen Gewohnheiten, welche hüben und drüben ziemlich dieselben
sind. Und die kurländischen Barone, welche diese friedliche Eroberung Nord-
Samogitiens vollführten, sind nicht allein geblieben; sie nahmen bewährte
lettische Arbeitsaufseher, Wirthschaftsbeamte und Oberknechte aus der Hei-
wath mit, um an ihnen Bundesgenossen und Helfer im Kampfe gegen die


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[0457] Demokratie als Missionäre der russischen Sache nach Wilna und Kowno ge¬ sandt worden waren und sich als die unbeschränkten Gebieter des Landes fühlten, die Kaufliebhaber, die nach Litthauen und Samogitien kamen, in der Regel höchst scheel ansahen und das Mögliche thaten, um denselben die Niederlassung am Niemen oder der Jura zu erschweren und zu verleiden. Sie fürchteten durch diese „Aristokraten" in ihrer „demokratischen" Thätigkeit genirt und controllirt zu werden, .zumal viele von ihnen es darauf abgesehen hatten, die herrenlos gewordenen polnischen Edelsitze selbst zu erwerben. Erst in allerneuster Zeit, seit der General Potapow kaiserlicher Statthalter der „nordwestlichen Gouvernements" (wie die samogitischen, lithauischen und weißrussischen Provinzen officiell heißen) geworden, ist eine Wendung zum besseren eingetreten und ein großer Theil jenes Auswurfs der russischen Demokratie, den die Murawjew und Kaufmann zur „Pacification des Landes" mitgebracht hatten, wieder entfernt und gleichzeitig dem gesetzlosen und räuberischen Treiben der verwilderten Bauern ein fester Riegel vorge¬ schoben worden. Höchst eigenthümlich-haben sich die Verhältnisse in dem nördlichen, an Kurland grenzenden Theil Samogitiens und des anliegenden Gouvernements Wilna gestaltet. Dieser Strich ist allmählich in das deutsche Kulturleben gezogen worden und wird — wenn keine gewaltsame Störung eintritt — in einigen Jahrzehnten von Kurland kaum mehr zu unterscheiden sein. Von Alters her sind die kurländischen Barone der Nachbarschaft gewohnt gewesen, einen Theil ihrer Capitalien zum Ankauf lithauischer Güter zu verwenden und ihre jüngeren Söhne auf denselben zu versorgen. So ist es geschehen, daß der nördliche Strich der Gouvernements Wilna und Kowno zum größten Theil in deutsche Hände übergegangen ist und durch deutsche Landwirthe verwaltet wird. Fragt man nach den Namen der Gutsbesitzer dieser Ge¬ gend, so werden die bekannten Namen der Fürsten Lieven, der Hahn, Haaren, Budberg, Bistram, Stempel u. s. w. genannt und die oberfläch¬ lichste Bekanntschaft mit den Besitzungen dieser Adelsfamilien genügt zu der Ueberzeugung, daß dieselben die wirthschaftlichen Tugenden ihrer Heimath mitzunehmen und zu verwerthen gewußt haben. Das Idiom, das die Bauern dieses Grenzstrichs reden, ist dem lettischen so nah verwandt, daß die Ver¬ ständigung mit ihnen dem kurländischen Einwanderer keinerlei Schwierig¬ keiten bietet. Aehnlich steht es mit den Bodenverhältnissen und gewissen landwirthschaftlichen Gewohnheiten, welche hüben und drüben ziemlich dieselben sind. Und die kurländischen Barone, welche diese friedliche Eroberung Nord- Samogitiens vollführten, sind nicht allein geblieben; sie nahmen bewährte lettische Arbeitsaufseher, Wirthschaftsbeamte und Oberknechte aus der Hei- wath mit, um an ihnen Bundesgenossen und Helfer im Kampfe gegen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/457>, abgerufen am 15.01.2025.