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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Unredlichkeit, Trägheit und Rohheit der Urbewohner zu gewinnen. Diese
Letten, die man durch günstige Lohn- und Niederlassungsbedingungen an
die neuen Verhältnisse zu fesseln wußte, sind -- häufig ohne die deutsche
Sprache zu kennen -- eifrige Mitarbeiter am Germanisationswerke geworden
und ihren deutschen Herren durch die gleiche Kirche, die gleiche Bildungs¬
substanz und den gleichen Gegensatz gegen polnisch-katholische Wirthschaft
naturgemäß verbunden. Neuerdings ist es sogar häufig geschehen, daß wohl¬
habende kurländische Bauern sich die Billigkeit des samogitischen und lit-
thauischen Grund und Bodens zu Nutz machten, Vorwerke und Höfe erwar¬
ben und durch ihre Söhne oder Vettern verwalten ließen. -- Endlich werden
auf den Gütern dieses Landestheils auch deutsche Bürgerfamilien gefunden.

In Liv- und Kurland war der Bürgerliche lange Zeit vom Erwerb
adliger Güter ausgeschlossen, während das damals für Wilna und Kowno
giltige "litthauische Statut" nichts nach dem Stammbaum und der Standes¬
qualität des Güterkäufers fragte. Aus diesem Grunde ist manche notable
rigaer Kaufmannsfamilie, der es unter normalen Verhältnissen nicht in den
Sinn gekommen wäre, ihr Geld außer Landes anzulegen, dazu gelangt,
an der kowno-wilnaschen Grenze ansässig zu werden. Obgleich diese Ein¬
wanderer zufolge des-harten Ablösungsgesetzes und der ihnen auferlegten
Contributionen einen Theil ihres Anlagecapitals eingebüßt haben, sind sie
mit deutscher Zähigkeit in dem Lande geblieben, das ihnen eine neue Hei¬
math geworden -- ja in den letzten Monaten hat das deutsche Element be¬
trächtlich zugenommen. Im März und April dieses Jahres fanden zu Wilna
und Kowno die längst angekündigten Versteigerungen der confiscirten Güter
statt, Von einhundertundsechzig dieser Güter sind nach dem Bericht des amt¬
lichen Wilnaer Boten nicht weniger als hundert in deutsche Hände überge¬
gangen und meist zu unglaublich niedrigen Preisen erstanden worden. Die
Käufer gehörten allen Klassen der lip- und kurländischen Gesellschaft an und
waren besonders darauf bedacht, in der Nähe der kurländischen Grenze und
des bereits in deutschen Händen befindlichen nordsamogitischen Striches seßhaft
zu werden, wo sie auf die Nachbarschaft von Landsleuten und Glaubensge¬
nossen rechnen konnten. Zu ihrer bittern Enttäuschung mußte die russische
Presse eingestehen, daß aus der gehofften Russification, im nördlichen Samo-
gitien und Litthauen eine Germanisation zu werden drohe. Besonders
wichtig für die Zukunft derselben ist es, daß die lettischen Bauern des
wohlhabenden Unterkurland entschiedene Neigung zeigen, dem Beispiel ihrer
deutschen Landsleute zu folgen und als Pächter und kleinere Grundbesitzer in
dem fruchtbaren Nachbarlande festen Fuß zu fassen. Im vorigen Jahre
machte die russische Demokratie des samogitischen Fleckens schauten den ver¬
geblichen Versuch, von diesem Umstände Nutzen zu ziehen; ihre Emissäre streuten


Unredlichkeit, Trägheit und Rohheit der Urbewohner zu gewinnen. Diese
Letten, die man durch günstige Lohn- und Niederlassungsbedingungen an
die neuen Verhältnisse zu fesseln wußte, sind — häufig ohne die deutsche
Sprache zu kennen — eifrige Mitarbeiter am Germanisationswerke geworden
und ihren deutschen Herren durch die gleiche Kirche, die gleiche Bildungs¬
substanz und den gleichen Gegensatz gegen polnisch-katholische Wirthschaft
naturgemäß verbunden. Neuerdings ist es sogar häufig geschehen, daß wohl¬
habende kurländische Bauern sich die Billigkeit des samogitischen und lit-
thauischen Grund und Bodens zu Nutz machten, Vorwerke und Höfe erwar¬
ben und durch ihre Söhne oder Vettern verwalten ließen. — Endlich werden
auf den Gütern dieses Landestheils auch deutsche Bürgerfamilien gefunden.

In Liv- und Kurland war der Bürgerliche lange Zeit vom Erwerb
adliger Güter ausgeschlossen, während das damals für Wilna und Kowno
giltige „litthauische Statut" nichts nach dem Stammbaum und der Standes¬
qualität des Güterkäufers fragte. Aus diesem Grunde ist manche notable
rigaer Kaufmannsfamilie, der es unter normalen Verhältnissen nicht in den
Sinn gekommen wäre, ihr Geld außer Landes anzulegen, dazu gelangt,
an der kowno-wilnaschen Grenze ansässig zu werden. Obgleich diese Ein¬
wanderer zufolge des-harten Ablösungsgesetzes und der ihnen auferlegten
Contributionen einen Theil ihres Anlagecapitals eingebüßt haben, sind sie
mit deutscher Zähigkeit in dem Lande geblieben, das ihnen eine neue Hei¬
math geworden — ja in den letzten Monaten hat das deutsche Element be¬
trächtlich zugenommen. Im März und April dieses Jahres fanden zu Wilna
und Kowno die längst angekündigten Versteigerungen der confiscirten Güter
statt, Von einhundertundsechzig dieser Güter sind nach dem Bericht des amt¬
lichen Wilnaer Boten nicht weniger als hundert in deutsche Hände überge¬
gangen und meist zu unglaublich niedrigen Preisen erstanden worden. Die
Käufer gehörten allen Klassen der lip- und kurländischen Gesellschaft an und
waren besonders darauf bedacht, in der Nähe der kurländischen Grenze und
des bereits in deutschen Händen befindlichen nordsamogitischen Striches seßhaft
zu werden, wo sie auf die Nachbarschaft von Landsleuten und Glaubensge¬
nossen rechnen konnten. Zu ihrer bittern Enttäuschung mußte die russische
Presse eingestehen, daß aus der gehofften Russification, im nördlichen Samo-
gitien und Litthauen eine Germanisation zu werden drohe. Besonders
wichtig für die Zukunft derselben ist es, daß die lettischen Bauern des
wohlhabenden Unterkurland entschiedene Neigung zeigen, dem Beispiel ihrer
deutschen Landsleute zu folgen und als Pächter und kleinere Grundbesitzer in
dem fruchtbaren Nachbarlande festen Fuß zu fassen. Im vorigen Jahre
machte die russische Demokratie des samogitischen Fleckens schauten den ver¬
geblichen Versuch, von diesem Umstände Nutzen zu ziehen; ihre Emissäre streuten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/458>, abgerufen am 15.01.2025.