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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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eine sich fortpflanzende Reihe von nützlichen konstitutionellen Monarchen zu
erwarten."

Wir haben vorhin hervorgehoben, daß die Schwierigkeit, die Grundlagen
des Repräsentativsystems reformirend weiter zu bilden, einen der verhängniß-
vollsten Züge der englischen Verfassung bildet. Die Begründung dieses Satzes
liegt zum Theil in dem Vorhergehenden. Das Parlament stellt das Herrscher-
thum einer die wirkliche Regierungsgewalt ausübenden Elite dar, und eine
der Bedingungen dieses Herrscherthums ist der durch den ganzen Zuschnitt
der Gesellschaft, durch den Einfluß der grundbesitzenden Aristokratie, durch
die mit Absicht und Berechnung gehandhabte Macht des Königthums auf
das Vorstellungsvermögen der Massen bisjetzt mit Erfolg aufrecht erhaltene
Zustand "politischer Folgsamkeit" in der Nation. Ist dieser Stand der
Dinge haltbar? Wer die englische Arbeiterbewegung, die Fortschritte, welche
dieselbe seit der Arbeitergesetzgebung von 1823 gemacht, die Mittel, über
welche sie gegenwärtig verfügt, betrachtet, wer den demokratischen Zug der
Gegenwart nach Herstellung gleicher Rechtsverhältnisse in Rechnung bringt, wird
die Frage verneinen müssen. Treffend bezeichnet selbst der Verfasser, obwohl
von seinem Standpunkt aus einer Veränderung abgeneigt, den Zustand des
englischen Verfassungswesens als ein "labiles Gleichgewicht". Er sagt:
"Ist das Gleichgewicht einmal gestört, so besteht keine Neigung, in den frühe¬
ren Zustand zurückzukehren, sondern im Gegentheil, sich von ihm zu ent¬
fernen. Ein auf seiner Spitze balancirter Kegel ist im labilen Gleichgewicht:
stößt man nur ein klein wenig daran, so wird er immer mehr und mehr aus
seiner Stellung kommen und zur Erde fallen. So ist es auch in Gemein¬
wesen, deren große Massen unwissend, aber lenkungsfähig sind; sobald man
einmal anfängt, den unwissenden Classen die Leitung zu überlassen, kann man
ihrem Gehorsam für immer Lebewohl sagen. Ihre Demagogen werden es
ihnen einprägen und ihre Zeitungen werden es wiederholen, daß die Negie¬
rung der nun herrschenden (Dynastie) des Volkes besser ist als die Herrschaft
der gefallenen Dynastie (der Aristokratie). Ein Volk hört selten über eine
Sache, die es nahe berührt, zwei verschiedene Meinungen an, es hat nie¬
mals Gehör für tadelnde Kritik seiner selbst. Niemand wird ihm sagen,
daß die vom Throne gestoßene, gebildete Minderheit besser oder weiser re¬
gierte als es selbst regiert."-

Die andere Frage und die wichtigere, die entsteht, ist diese: wird durch eine
durchgreifende Veränderung der Grundlagen des englischen Repräsentativ¬
systems, durch eine demokratische Fortbildung des Wahlrechts das englische
Verfassungswesen selbst d. h. die Fortdauer der parlamentarischen Cabinets-
regierung in Frage gestellt? Der Zweifel daran mag wohl berechtigt erscheinen,
wenn man erwägt, daß ein Parlament nur regieren kann, wenn es regle-


eine sich fortpflanzende Reihe von nützlichen konstitutionellen Monarchen zu
erwarten."

Wir haben vorhin hervorgehoben, daß die Schwierigkeit, die Grundlagen
des Repräsentativsystems reformirend weiter zu bilden, einen der verhängniß-
vollsten Züge der englischen Verfassung bildet. Die Begründung dieses Satzes
liegt zum Theil in dem Vorhergehenden. Das Parlament stellt das Herrscher-
thum einer die wirkliche Regierungsgewalt ausübenden Elite dar, und eine
der Bedingungen dieses Herrscherthums ist der durch den ganzen Zuschnitt
der Gesellschaft, durch den Einfluß der grundbesitzenden Aristokratie, durch
die mit Absicht und Berechnung gehandhabte Macht des Königthums auf
das Vorstellungsvermögen der Massen bisjetzt mit Erfolg aufrecht erhaltene
Zustand „politischer Folgsamkeit" in der Nation. Ist dieser Stand der
Dinge haltbar? Wer die englische Arbeiterbewegung, die Fortschritte, welche
dieselbe seit der Arbeitergesetzgebung von 1823 gemacht, die Mittel, über
welche sie gegenwärtig verfügt, betrachtet, wer den demokratischen Zug der
Gegenwart nach Herstellung gleicher Rechtsverhältnisse in Rechnung bringt, wird
die Frage verneinen müssen. Treffend bezeichnet selbst der Verfasser, obwohl
von seinem Standpunkt aus einer Veränderung abgeneigt, den Zustand des
englischen Verfassungswesens als ein „labiles Gleichgewicht". Er sagt:
„Ist das Gleichgewicht einmal gestört, so besteht keine Neigung, in den frühe¬
ren Zustand zurückzukehren, sondern im Gegentheil, sich von ihm zu ent¬
fernen. Ein auf seiner Spitze balancirter Kegel ist im labilen Gleichgewicht:
stößt man nur ein klein wenig daran, so wird er immer mehr und mehr aus
seiner Stellung kommen und zur Erde fallen. So ist es auch in Gemein¬
wesen, deren große Massen unwissend, aber lenkungsfähig sind; sobald man
einmal anfängt, den unwissenden Classen die Leitung zu überlassen, kann man
ihrem Gehorsam für immer Lebewohl sagen. Ihre Demagogen werden es
ihnen einprägen und ihre Zeitungen werden es wiederholen, daß die Negie¬
rung der nun herrschenden (Dynastie) des Volkes besser ist als die Herrschaft
der gefallenen Dynastie (der Aristokratie). Ein Volk hört selten über eine
Sache, die es nahe berührt, zwei verschiedene Meinungen an, es hat nie¬
mals Gehör für tadelnde Kritik seiner selbst. Niemand wird ihm sagen,
daß die vom Throne gestoßene, gebildete Minderheit besser oder weiser re¬
gierte als es selbst regiert."-

Die andere Frage und die wichtigere, die entsteht, ist diese: wird durch eine
durchgreifende Veränderung der Grundlagen des englischen Repräsentativ¬
systems, durch eine demokratische Fortbildung des Wahlrechts das englische
Verfassungswesen selbst d. h. die Fortdauer der parlamentarischen Cabinets-
regierung in Frage gestellt? Der Zweifel daran mag wohl berechtigt erscheinen,
wenn man erwägt, daß ein Parlament nur regieren kann, wenn es regle-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/372>, abgerufen am 15.01.2025.