Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.rungsfähig gebildet ist und die Ausdehnung des Wahlrechts in England daher Im allgemeinen ist zu sagen, daß die Theorie allein -- auch die Ar¬ Aber selbst wenn es sich anders verhielte, selbst wenn das Raisonne- Grenzboten II. 18K8. 47
rungsfähig gebildet ist und die Ausdehnung des Wahlrechts in England daher Im allgemeinen ist zu sagen, daß die Theorie allein — auch die Ar¬ Aber selbst wenn es sich anders verhielte, selbst wenn das Raisonne- Grenzboten II. 18K8. 47
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117905"/> <p xml:id="ID_1171" prev="#ID_1170"> rungsfähig gebildet ist und die Ausdehnung des Wahlrechts in England daher<lb/> eine ganz andere Bedeutung hat wie in den Staaten, deren Volksvertreter<lb/> nur die Stellung des einen Factors der Gesetzgebung mit einer bestrittenen<lb/> Competenz inne haben. In der That glaubt der Verfasser, die aufgeworfene<lb/> Frage bejahen zu müssen. Er behauptet, daß die „ultra-demokratische"<lb/> Theorie, wonach jeder Mann von 21 Jahren zur Parlamentswahl gleiches<lb/> Stimmrecht haben soll, die Parlamentsregierung unmöglich machen werde,<lb/> weil ein solches Parlament nicht aus gemäßigten.Männern bestehen könne.<lb/> Es werde zusammengesetzt sein aus zwei Arten von Repräsentanten, deren<lb/> eine aus der niedrigsten Classe in den Städten, die andere aus der niedrig¬<lb/> sten Klasse der Landbewohner hervorgehen würde. Er ist ebenso der Ansicht,<lb/> daß die Ausschließung der arbeitenden Classen von der Repräsentation nicht<lb/> als ein Fehler des Systems zu betrachten sei, weil die arbeitenden Classen<lb/> fast nichts zu der gesammten öffentlichen Meinung beitragen. Hiermit einiger¬<lb/> maßen im Widerspruch gibt er später zu, daß unter den Arbeitern der<lb/> Städte ein besonderes geistiges Leben aufgesproßt und daß es wünschens¬<lb/> wert!) sei, ihnen einen Theil an der Volksvertretung zu gewähren, weil sie<lb/> ihre Interessen nun einmal falsch aufgefaßt und vernachlässigt glauben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1172"> Im allgemeinen ist zu sagen, daß die Theorie allein — auch die Ar¬<lb/> gumentation des englischen Verfassers ist hierbei schließlich nur eine theore¬<lb/> tisch angestellte Wahrscheinlichkeitsrechnung — die Frage nicht entscheidet.<lb/> Das Urtheil des Engländers, der sich an die augenscheinliche Thatsache hält,<lb/> daß das Parlament durch seine Staatsklugheit und durch seine gesammte<lb/> Haltung die öffentliche Meinung durchschnittlich gut darstellt, kommt leicht<lb/> zu dem Schluß, daß jede andere Zusammensetzung des Repräsentativkörpers<lb/> dies Ergebniß gefährdet. Aber dieser Schluß ist doch nicht unfehlbar sicher. Die<lb/> neuesten Erfahrungen, die Deutschland mit dem allgemeinen directen Stimm¬<lb/> recht gemacht hat, sprechen nicht dafür, daß dasselbe die Zusammensetzung eines<lb/> Wahlkörpers aus gemäßigten Elementen erschwert, und wenn zuzugeben ist,<lb/> daß dies bei wesentlicher Verschiedenheit der socialen und Bildungsverhält¬<lb/> nisse nicht ohne weiteres einen Rückschluß auf England gestattet, so würde<lb/> doch auch eben daraus nur folgern, daß andererseits, was für England un¬<lb/> vereinbar mit der parlamentarischen Cabinetsregierung erscheinen mag, nicht<lb/> nothwendigerweise auf das System an sich und auf anders gestaltete Bedin¬<lb/> gungen Anwendung findet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1173" next="#ID_1174"> Aber selbst wenn es sich anders verhielte, selbst wenn das Raisonne-<lb/> ment des englischen Verfassers ausnahmslose Geltung hätte, dem Einspruch<lb/> der regierungsfähigen Elite des Volks gegen die emporstrebenden unteren<lb/> Classen wird von diesen immer mit Fug entgegengesetzt werden: wenn wir<lb/> noch nicht regierungsfähig sind, so haben wir doch ein Recht, es zu werden,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 18K8. 47</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0373]
rungsfähig gebildet ist und die Ausdehnung des Wahlrechts in England daher
eine ganz andere Bedeutung hat wie in den Staaten, deren Volksvertreter
nur die Stellung des einen Factors der Gesetzgebung mit einer bestrittenen
Competenz inne haben. In der That glaubt der Verfasser, die aufgeworfene
Frage bejahen zu müssen. Er behauptet, daß die „ultra-demokratische"
Theorie, wonach jeder Mann von 21 Jahren zur Parlamentswahl gleiches
Stimmrecht haben soll, die Parlamentsregierung unmöglich machen werde,
weil ein solches Parlament nicht aus gemäßigten.Männern bestehen könne.
Es werde zusammengesetzt sein aus zwei Arten von Repräsentanten, deren
eine aus der niedrigsten Classe in den Städten, die andere aus der niedrig¬
sten Klasse der Landbewohner hervorgehen würde. Er ist ebenso der Ansicht,
daß die Ausschließung der arbeitenden Classen von der Repräsentation nicht
als ein Fehler des Systems zu betrachten sei, weil die arbeitenden Classen
fast nichts zu der gesammten öffentlichen Meinung beitragen. Hiermit einiger¬
maßen im Widerspruch gibt er später zu, daß unter den Arbeitern der
Städte ein besonderes geistiges Leben aufgesproßt und daß es wünschens¬
wert!) sei, ihnen einen Theil an der Volksvertretung zu gewähren, weil sie
ihre Interessen nun einmal falsch aufgefaßt und vernachlässigt glauben.
Im allgemeinen ist zu sagen, daß die Theorie allein — auch die Ar¬
gumentation des englischen Verfassers ist hierbei schließlich nur eine theore¬
tisch angestellte Wahrscheinlichkeitsrechnung — die Frage nicht entscheidet.
Das Urtheil des Engländers, der sich an die augenscheinliche Thatsache hält,
daß das Parlament durch seine Staatsklugheit und durch seine gesammte
Haltung die öffentliche Meinung durchschnittlich gut darstellt, kommt leicht
zu dem Schluß, daß jede andere Zusammensetzung des Repräsentativkörpers
dies Ergebniß gefährdet. Aber dieser Schluß ist doch nicht unfehlbar sicher. Die
neuesten Erfahrungen, die Deutschland mit dem allgemeinen directen Stimm¬
recht gemacht hat, sprechen nicht dafür, daß dasselbe die Zusammensetzung eines
Wahlkörpers aus gemäßigten Elementen erschwert, und wenn zuzugeben ist,
daß dies bei wesentlicher Verschiedenheit der socialen und Bildungsverhält¬
nisse nicht ohne weiteres einen Rückschluß auf England gestattet, so würde
doch auch eben daraus nur folgern, daß andererseits, was für England un¬
vereinbar mit der parlamentarischen Cabinetsregierung erscheinen mag, nicht
nothwendigerweise auf das System an sich und auf anders gestaltete Bedin¬
gungen Anwendung findet.
Aber selbst wenn es sich anders verhielte, selbst wenn das Raisonne-
ment des englischen Verfassers ausnahmslose Geltung hätte, dem Einspruch
der regierungsfähigen Elite des Volks gegen die emporstrebenden unteren
Classen wird von diesen immer mit Fug entgegengesetzt werden: wenn wir
noch nicht regierungsfähig sind, so haben wir doch ein Recht, es zu werden,
Grenzboten II. 18K8. 47
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |