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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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gestalten. Es hat auch russische Dichter gegeben, welche von des Le¬
bens Lust und Pracht, von der Herrlichkett Gottes und der Natur, von
Menschenwürde und Liebesglanz sangen, -- aber das Herz ihrer Nation
haben nicht sie, sondern diejenigen getroffen, welche den Ton schmerz¬
erfüllter Klage über den Jammer dessen anschlugen, was sie täglich sehen
und hören mußten. Das Bedürfniß nach einer menschenwürdigeren Gestal¬
tung der gegebenen Verhältnisse, nach Aussöhnung des Volkes mit dem
Staat, nach Erneuerung des wahren Berufes dieses letzteren stand thatsäch¬
lich im Vordergrunde des Volksbewußtseins, war das erste Geheimniß, das
der Poet von dem Munde der Volksseele lesen mußte, wenn er ein wirklicher
Dichter sein, sich mit seinem Volk einig wissen wollte. Nur flache und arme
Gemüther konnten an dem vorübergehen, worauf es in ihrer wirklichen Welt
zunächst ankam; an eine ideale Gestaltung des russischen Lebensinhalts konnte
erst gedacht werden, wenn dem Träger desselben die schweren Fesseln, unter denen
er seufzte, abgenommen waren. "Während andere kämpfen müssen in dem großen
Kampf der Zeit", ist dem Dichter die Flucht in die Idealwelt nicht immer gestattet'
möglich wird sie ihm nur, wenn er eine sichere gefriedete Stätte weiß, von welcher
er ausfliegen kann! Und wo war diese Stätte in der Welt der französirten
Gardeoffiziere und Kammerjunker, der diebischen Tschinowniks, der rohen be¬
rufslosen Gutsbesitzer und geprügelten Bauern zu finden? Daß die russische
Literatur in dem Kampf für das gute Recht und die Freiheit des Volkes,
aus welchem sie erwachsen, eintreten mußte, mindestens den düsteren Hinter¬
grund russischen Lebens nicht schönfärben durfte, das braucht eigentlich gar
nicht bewiesen zu werden, nachdem es zur geschichtlichen Thatsache geworden,
daß die hervorragendsten Geister der Nation diesen Weg genommen. Die
polemische Richtung, welche sie einschlugen, war überdies schon durch das
Gesetz der Reaction bedingt. Das als unfehlbar angepriesene herrschende
System weckte naturgemäß ihren Widerspruch, nur durch die Verneinung
dessen, was sich fälschlich für Wahrheit ausgab, konnten sie zur Wahrheit
durchdringen. Und nur das Gewand der Dichtkunst gab ihnen die Möglichkeit,
das zu sagen, was sonst verschwiegen geblieben wäre, das Recht der Muse
mußte einbringen, was dem Volksrecht verloren gegangen war.

Es ist hier nicht der Ort, die großen und bleibenden Erfolge, welche
durch die pessimistische oder anklägerische Richtung der russischen Literatur
erzielt worden sind, chronologisch nachzuweisen. Die Anerkennung derselben
wird uns vielmehr zur Pflicht machen, der Grenzen zu gedenken, welche die
russische Poesie einhalten mußte, um sich nicht in der Gemeinheit des Tages
zu verlieren, nicht aus der geweihten Priesterin zur rechthaberischen Advo-
eatin und Rechnungsführerin über all den Unrath zu werden, der sich in den
Ecken und Winkeln des Volks- und Staatswesens aufgehäuft hatte. Wir


gestalten. Es hat auch russische Dichter gegeben, welche von des Le¬
bens Lust und Pracht, von der Herrlichkett Gottes und der Natur, von
Menschenwürde und Liebesglanz sangen, — aber das Herz ihrer Nation
haben nicht sie, sondern diejenigen getroffen, welche den Ton schmerz¬
erfüllter Klage über den Jammer dessen anschlugen, was sie täglich sehen
und hören mußten. Das Bedürfniß nach einer menschenwürdigeren Gestal¬
tung der gegebenen Verhältnisse, nach Aussöhnung des Volkes mit dem
Staat, nach Erneuerung des wahren Berufes dieses letzteren stand thatsäch¬
lich im Vordergrunde des Volksbewußtseins, war das erste Geheimniß, das
der Poet von dem Munde der Volksseele lesen mußte, wenn er ein wirklicher
Dichter sein, sich mit seinem Volk einig wissen wollte. Nur flache und arme
Gemüther konnten an dem vorübergehen, worauf es in ihrer wirklichen Welt
zunächst ankam; an eine ideale Gestaltung des russischen Lebensinhalts konnte
erst gedacht werden, wenn dem Träger desselben die schweren Fesseln, unter denen
er seufzte, abgenommen waren. „Während andere kämpfen müssen in dem großen
Kampf der Zeit", ist dem Dichter die Flucht in die Idealwelt nicht immer gestattet'
möglich wird sie ihm nur, wenn er eine sichere gefriedete Stätte weiß, von welcher
er ausfliegen kann! Und wo war diese Stätte in der Welt der französirten
Gardeoffiziere und Kammerjunker, der diebischen Tschinowniks, der rohen be¬
rufslosen Gutsbesitzer und geprügelten Bauern zu finden? Daß die russische
Literatur in dem Kampf für das gute Recht und die Freiheit des Volkes,
aus welchem sie erwachsen, eintreten mußte, mindestens den düsteren Hinter¬
grund russischen Lebens nicht schönfärben durfte, das braucht eigentlich gar
nicht bewiesen zu werden, nachdem es zur geschichtlichen Thatsache geworden,
daß die hervorragendsten Geister der Nation diesen Weg genommen. Die
polemische Richtung, welche sie einschlugen, war überdies schon durch das
Gesetz der Reaction bedingt. Das als unfehlbar angepriesene herrschende
System weckte naturgemäß ihren Widerspruch, nur durch die Verneinung
dessen, was sich fälschlich für Wahrheit ausgab, konnten sie zur Wahrheit
durchdringen. Und nur das Gewand der Dichtkunst gab ihnen die Möglichkeit,
das zu sagen, was sonst verschwiegen geblieben wäre, das Recht der Muse
mußte einbringen, was dem Volksrecht verloren gegangen war.

Es ist hier nicht der Ort, die großen und bleibenden Erfolge, welche
durch die pessimistische oder anklägerische Richtung der russischen Literatur
erzielt worden sind, chronologisch nachzuweisen. Die Anerkennung derselben
wird uns vielmehr zur Pflicht machen, der Grenzen zu gedenken, welche die
russische Poesie einhalten mußte, um sich nicht in der Gemeinheit des Tages
zu verlieren, nicht aus der geweihten Priesterin zur rechthaberischen Advo-
eatin und Rechnungsführerin über all den Unrath zu werden, der sich in den
Ecken und Winkeln des Volks- und Staatswesens aufgehäuft hatte. Wir


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[0254] gestalten. Es hat auch russische Dichter gegeben, welche von des Le¬ bens Lust und Pracht, von der Herrlichkett Gottes und der Natur, von Menschenwürde und Liebesglanz sangen, — aber das Herz ihrer Nation haben nicht sie, sondern diejenigen getroffen, welche den Ton schmerz¬ erfüllter Klage über den Jammer dessen anschlugen, was sie täglich sehen und hören mußten. Das Bedürfniß nach einer menschenwürdigeren Gestal¬ tung der gegebenen Verhältnisse, nach Aussöhnung des Volkes mit dem Staat, nach Erneuerung des wahren Berufes dieses letzteren stand thatsäch¬ lich im Vordergrunde des Volksbewußtseins, war das erste Geheimniß, das der Poet von dem Munde der Volksseele lesen mußte, wenn er ein wirklicher Dichter sein, sich mit seinem Volk einig wissen wollte. Nur flache und arme Gemüther konnten an dem vorübergehen, worauf es in ihrer wirklichen Welt zunächst ankam; an eine ideale Gestaltung des russischen Lebensinhalts konnte erst gedacht werden, wenn dem Träger desselben die schweren Fesseln, unter denen er seufzte, abgenommen waren. „Während andere kämpfen müssen in dem großen Kampf der Zeit", ist dem Dichter die Flucht in die Idealwelt nicht immer gestattet' möglich wird sie ihm nur, wenn er eine sichere gefriedete Stätte weiß, von welcher er ausfliegen kann! Und wo war diese Stätte in der Welt der französirten Gardeoffiziere und Kammerjunker, der diebischen Tschinowniks, der rohen be¬ rufslosen Gutsbesitzer und geprügelten Bauern zu finden? Daß die russische Literatur in dem Kampf für das gute Recht und die Freiheit des Volkes, aus welchem sie erwachsen, eintreten mußte, mindestens den düsteren Hinter¬ grund russischen Lebens nicht schönfärben durfte, das braucht eigentlich gar nicht bewiesen zu werden, nachdem es zur geschichtlichen Thatsache geworden, daß die hervorragendsten Geister der Nation diesen Weg genommen. Die polemische Richtung, welche sie einschlugen, war überdies schon durch das Gesetz der Reaction bedingt. Das als unfehlbar angepriesene herrschende System weckte naturgemäß ihren Widerspruch, nur durch die Verneinung dessen, was sich fälschlich für Wahrheit ausgab, konnten sie zur Wahrheit durchdringen. Und nur das Gewand der Dichtkunst gab ihnen die Möglichkeit, das zu sagen, was sonst verschwiegen geblieben wäre, das Recht der Muse mußte einbringen, was dem Volksrecht verloren gegangen war. Es ist hier nicht der Ort, die großen und bleibenden Erfolge, welche durch die pessimistische oder anklägerische Richtung der russischen Literatur erzielt worden sind, chronologisch nachzuweisen. Die Anerkennung derselben wird uns vielmehr zur Pflicht machen, der Grenzen zu gedenken, welche die russische Poesie einhalten mußte, um sich nicht in der Gemeinheit des Tages zu verlieren, nicht aus der geweihten Priesterin zur rechthaberischen Advo- eatin und Rechnungsführerin über all den Unrath zu werden, der sich in den Ecken und Winkeln des Volks- und Staatswesens aufgehäuft hatte. Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/254>, abgerufen am 15.01.2025.