Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.hat Gogol das russische Provinzial- und Kleinleben für die Literatur ent¬ Wohl wissen wir Alle, die Kunst und vor allem die Dichtkunst hat Grenzboten II. 1868. 32
hat Gogol das russische Provinzial- und Kleinleben für die Literatur ent¬ Wohl wissen wir Alle, die Kunst und vor allem die Dichtkunst hat Grenzboten II. 1868. 32
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hat Gogol das russische Provinzial- und Kleinleben für die Literatur ent¬
deckt. Mit einer reichen satirischen Ader begabt, schildert er in höchst realisti¬
scher Weise die Zustände des kleinen, in faulem Dämmer dahinlebenden
Landadels, die Corruption und Vergnüglichkeit des Beamtenstandes und seines
Proletariats, die Eigenthümlichkeiten der Mittelclasse. Aber sein Humor ruht
auf dem dunklen Grunde eines tiefen und leidenschaftlichen Schmerzes über
das sittliche Elend der Zustände, mit deren köstlichen Schilderungen er das
Zwergfall seiner Leser erschüttert. Seine berühmtesten und populärsten Werke,
der Roman „die todten Seelen" und das Lustspiel „der Resident" (Revisor)
sind erschütternde Anklagen gegen einen Adel, der seinen Beruf seit Menschen¬
gedenken mit Füßen getreten hat und gegen eine Bureaucratie, die an dem Mark
des Volkes saugt. — Bei dem großen satirischen Talent der Russen und
ihrer Gabe für feine Beobachtung des wirklichen Lebens hat nicht ausbleiben
können, daß Gogol eine wahre Legion von Nachfolgern und Nachahmern fand,
die übrigens — wie wir gleich hier bemerken wollen — in einen gemeinen
Realismus versanken, der Kunst jede ideale Seite absprachen und in der photo¬
graphisch treuen Wiedergabe des Ekelhaften und Widerwärtigen ihre mit cyni-
schen Behagen übernommene Aufgabe sahen. — Beim Beginn der „neuen
Aera" in der Mitte der fünfziger Jahre, waren die Namen Schischedrin
(Skizzen) und Gontscharow (Oblomow) in aller Welt Munde. Der er¬
stere entwarf ein detaillirtes Bild des räuberischen Systems, dem die ländlichen
Beamten huldigten, der letztere schilderte die Apathie und Thatenunfähigkeir
in dem besseren Theil des jungen Adels. Wiederum waren es Anklagen
gegen die gegebenen Verhältnisse, welche in der russischen Leserwelt zündeten
und eine allgemeine Bewegung der Geister hervorriefen. Was Herzen und
Tschernitschewski, die Vertreter der „Allerneuesten" anlangt, so genügt es, die
Titel ihrer wichtigsten und epochemachendsten Romane zu nennen. „Wer ist
schuld?" und „Was sollen wir anfangen?" lauten dieselben.
Wohl wissen wir Alle, die Kunst und vor allem die Dichtkunst hat
nicht die Aufgabe, als Correctivmittel für sociale und politische Schäden zu
dienen: die Darstellung des Schönen soll ihr Selbstzweck sein und zu ihrem
Liebling wählt sie nur den Künstler, der das Leben harmonisch erfaßt, und die
Widersprüche desselben in dem Glauben an eine ideale Bestimmung der Mensch¬
heit zu versöhnen gewußt hat. Haben wir darum aber ein Recht, den russischen
Poeten, welche sich zuerst vor allen gedrängt fühlten, die Schäden ihrer
heimischen Ordnung bloszulegen und kühn zu bekämpfen — den wahren
Dichterberuf abzusprechen? Schwerlich. Selbst von der Culrurseite der
Frage abgesehen, dürfte nicht bestritten werden, daß die Kunst eines Vol¬
kes die natürliche Aufgabe hat, das, was im Innern desselben ruht, ans
Licht zu bringen, den vorhandenen Inhalt des Volksthums poetisch zu
Grenzboten II. 1868. 32
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