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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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glauben, der Aufgabe einer concreten Feststellung dieser Grenzen nicht besser
gerecht werden zu können, als wenn wir dem Entwickelungsgange Iwan
Turgenjews, des begabtesten und edelsten der modernen russischen Poeten
nachgehen.

Während, wie oben angedeutet, die Mehrzahl der Volks- und Berufs¬
genossen dieses Mannes einem stark ausgeprägten Realismus huldigt, ist Tur¬
genjew eine durchaus ideale, der Gemeinheit des Lebens abgewandte
Natur. Unter den modernen Poeten seiner Nation nimmt er eine isolirte
Stellung ein. Die Mehrzahl derselben begnügt sich nicht mehr damit. Licht
und Schatten ihres Volkslebens in große, ergreifende Gemälde zusammen¬
zufassen und durch diese zu wirken; sie haben es von vorn herein nur mit der
Partie Iiontönsö der Stadt oder des Dorfs zuthun, nehmen dieselbe capitel¬
weise durch, wetteifern in cynischer Schaustellung derselben und glauben zu
Dichtern berufen zu sein, während sie das Amt Subalterner Beamten der
Sitten- und Gesundheitspolizei verwalten. In directem Gegensatz dazu hatte
Turgenjew die Natur zum Ausgangspunkt seiner poetischen Darstellung ge-
macht. Durch das "Tagebuch eines Jägers" (1852). eine Sammlung von flüch¬
tig hingeworfenen Charakterschilderungen und Landschaftsbildern, wurde er
zuerst in weiteren Kreisen bekannt. Er mochte selbst nicht erwartet haben, daß
dieses kleine Buch einen so mächtigen Eindruck aus seine Landsleute machen und
seinen Weg in die Literaturen des Auslandes finden würde: hatte er doch nur
die Bilder zusammengestellt, welche in seiner Seele haften geblieben waren,
da er als Jäger Wald und Flur der heimathlichen Provinz durchstreifte.
Von einer polemischen Tendenz ist in diesem Tagebuch nichts zu finden:
es zeigt uns den Verfasser als russischen Edelmann und Gutsbesitzer, der sich
trotz seiner Bildung an der schlichten Schönheit russischen Landlebens ge¬
nügen läßt, und statt im Staatsdienst den Chimären der Ordens- und Titel¬
sucht nachzujagen, Land und Leute seiner Umgebung kennen und verstehen
zu lernen sucht. Er macht den Leser mit den Geheimnissen der Jagd und
des Waldes bekannt, er führt ihn in die Hütte des Bauern, des ländlichen
Müllers und des Freisassen, bei dem er sein Nachtquartier nimmt, er zeigt
ihm endlich die adligen Nachbarn und Gevattern, die auf den Landsitzen
seines Kreises walten. Unausgesprochen liegt freilich all' diesen mit feinem
Natursinn und liebevollem-Verständniß entworfenen Gemälden die schwer-
wüthige Klage über die Verwahrlosung eines tüchtigen Volks, die Verwilde¬
rung und Verzerrung derer zu Grunde, welche zu Führern desselben berufen
find. Die Edelleute sind entweder harte und bornirte Landjunker, die ohne
Ahnung einer höheren Bestimmung des Menschen ihre Tage dämmernd dahin
schleppen, deren Leben wie ein verschollener Traum zwischen Schlaf und
Mahlzeiten vergeht, oder europäisch lackirte Beamten und Offiziere, die sich


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glauben, der Aufgabe einer concreten Feststellung dieser Grenzen nicht besser
gerecht werden zu können, als wenn wir dem Entwickelungsgange Iwan
Turgenjews, des begabtesten und edelsten der modernen russischen Poeten
nachgehen.

Während, wie oben angedeutet, die Mehrzahl der Volks- und Berufs¬
genossen dieses Mannes einem stark ausgeprägten Realismus huldigt, ist Tur¬
genjew eine durchaus ideale, der Gemeinheit des Lebens abgewandte
Natur. Unter den modernen Poeten seiner Nation nimmt er eine isolirte
Stellung ein. Die Mehrzahl derselben begnügt sich nicht mehr damit. Licht
und Schatten ihres Volkslebens in große, ergreifende Gemälde zusammen¬
zufassen und durch diese zu wirken; sie haben es von vorn herein nur mit der
Partie Iiontönsö der Stadt oder des Dorfs zuthun, nehmen dieselbe capitel¬
weise durch, wetteifern in cynischer Schaustellung derselben und glauben zu
Dichtern berufen zu sein, während sie das Amt Subalterner Beamten der
Sitten- und Gesundheitspolizei verwalten. In directem Gegensatz dazu hatte
Turgenjew die Natur zum Ausgangspunkt seiner poetischen Darstellung ge-
macht. Durch das „Tagebuch eines Jägers" (1852). eine Sammlung von flüch¬
tig hingeworfenen Charakterschilderungen und Landschaftsbildern, wurde er
zuerst in weiteren Kreisen bekannt. Er mochte selbst nicht erwartet haben, daß
dieses kleine Buch einen so mächtigen Eindruck aus seine Landsleute machen und
seinen Weg in die Literaturen des Auslandes finden würde: hatte er doch nur
die Bilder zusammengestellt, welche in seiner Seele haften geblieben waren,
da er als Jäger Wald und Flur der heimathlichen Provinz durchstreifte.
Von einer polemischen Tendenz ist in diesem Tagebuch nichts zu finden:
es zeigt uns den Verfasser als russischen Edelmann und Gutsbesitzer, der sich
trotz seiner Bildung an der schlichten Schönheit russischen Landlebens ge¬
nügen läßt, und statt im Staatsdienst den Chimären der Ordens- und Titel¬
sucht nachzujagen, Land und Leute seiner Umgebung kennen und verstehen
zu lernen sucht. Er macht den Leser mit den Geheimnissen der Jagd und
des Waldes bekannt, er führt ihn in die Hütte des Bauern, des ländlichen
Müllers und des Freisassen, bei dem er sein Nachtquartier nimmt, er zeigt
ihm endlich die adligen Nachbarn und Gevattern, die auf den Landsitzen
seines Kreises walten. Unausgesprochen liegt freilich all' diesen mit feinem
Natursinn und liebevollem-Verständniß entworfenen Gemälden die schwer-
wüthige Klage über die Verwahrlosung eines tüchtigen Volks, die Verwilde¬
rung und Verzerrung derer zu Grunde, welche zu Führern desselben berufen
find. Die Edelleute sind entweder harte und bornirte Landjunker, die ohne
Ahnung einer höheren Bestimmung des Menschen ihre Tage dämmernd dahin
schleppen, deren Leben wie ein verschollener Traum zwischen Schlaf und
Mahlzeiten vergeht, oder europäisch lackirte Beamten und Offiziere, die sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/255>, abgerufen am 15.01.2025.