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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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aber keineswegs Interessen, die der Nation näher am Herzen liegen, in den
Hintergrund zu drängen vermochte.

Sehen wir näher zu, was seit bald zwei Jahren die Gemüther in
Frankreich so mächtig bewegt, welcher tiefere Grund dies eigenthümliche
Mißbehagen und einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen hervorruft, der ge¬
rade bei diesem Volke, dem man früher vielmehr Selbstüberschätzung vor¬
werfen konnte, höchst auffallend ist.

Ohne Zweifel haben die Niederlagen der kaiserlichen Politik in Mexico
und Deutschland einen großen Antheil an dem verbreiteten Gefühl der Un¬
sicherheit; außerdem hat die ununterbrochene Bevormundung der Regierung den
Franzosen eine sichere, Stuffe Leitung von oben so unentbehrlich gemacht,
daß das unsichere Umhertasten, das Schwanken und Laviren der innern und
auswärtigen Politik nothwendig Mißstimmung erzeugen mußten.

Aber die Geringschätzung und zum Theil Erbitterung gegen das Re¬
gime, Empfindungen, die ihren Höhepunkt nach der luxemburger Angelegen¬
heit erreichten und sich bis zur römischen Expedition, abgesehen von unbedeu¬
tenden Schwankungen, in derselben Stärke erhielten, haben der Gleichgilttg-
keit und Theilnahmslosigkeit gegen die Acte der Regierung Platz gemacht
Es scheint, als ob man sich ziemlich allgemein sagt: "wir können einmal keinen
entscheidenden Einfluß auf die kaiserliche Politik ausüben; warten wir ruhig
ab, bis sich der Augenblick zum Eingreifen unsererseits darbietet und rüsten
wir uns inzwischen sogut als möglich für den Kampf." Diese Resignation
wird unterstützt durch das Bewußtsein, daß man ohnehin viel nachzuholen
und zu vervollkommnen hat auf Gebieten, wo man der staatlichen Einwir¬
kung nicht unmittelbar ausgesetzt ist.

Nach den Urtheilen, wie sie in Schrift und Wort aus der Heimath
herüberkommen, sollte man meinen, daß jenseits des Rheins die hier seit
1866 herrschende Stimmung lediglich aus Eifersucht auf die Macht Preußens
und aus Mißgunst gegen eine glücklichere Verfassung Deutschlands erklärt
wird. Gewiß, diese Empfindungen sind hier stark und allgemein verbreitet;
es ist aller Welt genugsam bekannt, Frankreich will es nicht ruhig hin¬
nehmen, daß ihm ein ebenbürtiger Nebenbuhler an seinen Grenzen erwächst.
Aber zu welchen Mitteln des Widerstandes will es greifen? Will es sich etwa
bei der Vermehrung seines Heeres und der Vervollkommnung seiner Waffen
begnügen? Und hat die Schlacht bei Sadowa hier keine andere Frucht, als
Haß und Neid getragen?

Es wäre ein verhängnißvoller Irrthum, wenn man sich die Sache so
vorstellte. Man übersieht dann, was in Paris und fast allen Provinzial-
stcidten seit einem Jahre für großartige Anstrengungen gemacht sind, um den
öffentlichen Unterricht zu heben, wie der Eifer, die Kenntnisse zu vermehren


aber keineswegs Interessen, die der Nation näher am Herzen liegen, in den
Hintergrund zu drängen vermochte.

Sehen wir näher zu, was seit bald zwei Jahren die Gemüther in
Frankreich so mächtig bewegt, welcher tiefere Grund dies eigenthümliche
Mißbehagen und einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen hervorruft, der ge¬
rade bei diesem Volke, dem man früher vielmehr Selbstüberschätzung vor¬
werfen konnte, höchst auffallend ist.

Ohne Zweifel haben die Niederlagen der kaiserlichen Politik in Mexico
und Deutschland einen großen Antheil an dem verbreiteten Gefühl der Un¬
sicherheit; außerdem hat die ununterbrochene Bevormundung der Regierung den
Franzosen eine sichere, Stuffe Leitung von oben so unentbehrlich gemacht,
daß das unsichere Umhertasten, das Schwanken und Laviren der innern und
auswärtigen Politik nothwendig Mißstimmung erzeugen mußten.

Aber die Geringschätzung und zum Theil Erbitterung gegen das Re¬
gime, Empfindungen, die ihren Höhepunkt nach der luxemburger Angelegen¬
heit erreichten und sich bis zur römischen Expedition, abgesehen von unbedeu¬
tenden Schwankungen, in derselben Stärke erhielten, haben der Gleichgilttg-
keit und Theilnahmslosigkeit gegen die Acte der Regierung Platz gemacht
Es scheint, als ob man sich ziemlich allgemein sagt: „wir können einmal keinen
entscheidenden Einfluß auf die kaiserliche Politik ausüben; warten wir ruhig
ab, bis sich der Augenblick zum Eingreifen unsererseits darbietet und rüsten
wir uns inzwischen sogut als möglich für den Kampf." Diese Resignation
wird unterstützt durch das Bewußtsein, daß man ohnehin viel nachzuholen
und zu vervollkommnen hat auf Gebieten, wo man der staatlichen Einwir¬
kung nicht unmittelbar ausgesetzt ist.

Nach den Urtheilen, wie sie in Schrift und Wort aus der Heimath
herüberkommen, sollte man meinen, daß jenseits des Rheins die hier seit
1866 herrschende Stimmung lediglich aus Eifersucht auf die Macht Preußens
und aus Mißgunst gegen eine glücklichere Verfassung Deutschlands erklärt
wird. Gewiß, diese Empfindungen sind hier stark und allgemein verbreitet;
es ist aller Welt genugsam bekannt, Frankreich will es nicht ruhig hin¬
nehmen, daß ihm ein ebenbürtiger Nebenbuhler an seinen Grenzen erwächst.
Aber zu welchen Mitteln des Widerstandes will es greifen? Will es sich etwa
bei der Vermehrung seines Heeres und der Vervollkommnung seiner Waffen
begnügen? Und hat die Schlacht bei Sadowa hier keine andere Frucht, als
Haß und Neid getragen?

Es wäre ein verhängnißvoller Irrthum, wenn man sich die Sache so
vorstellte. Man übersieht dann, was in Paris und fast allen Provinzial-
stcidten seit einem Jahre für großartige Anstrengungen gemacht sind, um den
öffentlichen Unterricht zu heben, wie der Eifer, die Kenntnisse zu vermehren


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[0147] aber keineswegs Interessen, die der Nation näher am Herzen liegen, in den Hintergrund zu drängen vermochte. Sehen wir näher zu, was seit bald zwei Jahren die Gemüther in Frankreich so mächtig bewegt, welcher tiefere Grund dies eigenthümliche Mißbehagen und einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen hervorruft, der ge¬ rade bei diesem Volke, dem man früher vielmehr Selbstüberschätzung vor¬ werfen konnte, höchst auffallend ist. Ohne Zweifel haben die Niederlagen der kaiserlichen Politik in Mexico und Deutschland einen großen Antheil an dem verbreiteten Gefühl der Un¬ sicherheit; außerdem hat die ununterbrochene Bevormundung der Regierung den Franzosen eine sichere, Stuffe Leitung von oben so unentbehrlich gemacht, daß das unsichere Umhertasten, das Schwanken und Laviren der innern und auswärtigen Politik nothwendig Mißstimmung erzeugen mußten. Aber die Geringschätzung und zum Theil Erbitterung gegen das Re¬ gime, Empfindungen, die ihren Höhepunkt nach der luxemburger Angelegen¬ heit erreichten und sich bis zur römischen Expedition, abgesehen von unbedeu¬ tenden Schwankungen, in derselben Stärke erhielten, haben der Gleichgilttg- keit und Theilnahmslosigkeit gegen die Acte der Regierung Platz gemacht Es scheint, als ob man sich ziemlich allgemein sagt: „wir können einmal keinen entscheidenden Einfluß auf die kaiserliche Politik ausüben; warten wir ruhig ab, bis sich der Augenblick zum Eingreifen unsererseits darbietet und rüsten wir uns inzwischen sogut als möglich für den Kampf." Diese Resignation wird unterstützt durch das Bewußtsein, daß man ohnehin viel nachzuholen und zu vervollkommnen hat auf Gebieten, wo man der staatlichen Einwir¬ kung nicht unmittelbar ausgesetzt ist. Nach den Urtheilen, wie sie in Schrift und Wort aus der Heimath herüberkommen, sollte man meinen, daß jenseits des Rheins die hier seit 1866 herrschende Stimmung lediglich aus Eifersucht auf die Macht Preußens und aus Mißgunst gegen eine glücklichere Verfassung Deutschlands erklärt wird. Gewiß, diese Empfindungen sind hier stark und allgemein verbreitet; es ist aller Welt genugsam bekannt, Frankreich will es nicht ruhig hin¬ nehmen, daß ihm ein ebenbürtiger Nebenbuhler an seinen Grenzen erwächst. Aber zu welchen Mitteln des Widerstandes will es greifen? Will es sich etwa bei der Vermehrung seines Heeres und der Vervollkommnung seiner Waffen begnügen? Und hat die Schlacht bei Sadowa hier keine andere Frucht, als Haß und Neid getragen? Es wäre ein verhängnißvoller Irrthum, wenn man sich die Sache so vorstellte. Man übersieht dann, was in Paris und fast allen Provinzial- stcidten seit einem Jahre für großartige Anstrengungen gemacht sind, um den öffentlichen Unterricht zu heben, wie der Eifer, die Kenntnisse zu vermehren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/147>, abgerufen am 15.01.2025.