Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.Freilich ist es nicht immer leicht, unter den vielfachen Beschäftigungen Freilich ist es nicht immer leicht, unter den vielfachen Beschäftigungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117678"/> <p xml:id="ID_448" next="#ID_449"> Freilich ist es nicht immer leicht, unter den vielfachen Beschäftigungen<lb/> und Richtungen, die sich bei einem so hoch civilisirten Volke verschlingen,<lb/> diejenige herauszuerkennen, welche dem tiefsten Triebe der Zeit entspricht<lb/> und um welche sich alle anderen, wie um ihren natürlichen Mittelpunkt,<lb/> gruppiren. Am Orte selbst kann man sich darüber täuschen, und nicht blos<lb/> die Fremden, denen immer ein wichtiger Theil der nur im Verborgenen her¬<lb/> vortretenden Stimmung verloren geht, sondern die Einheimischen selbst sind<lb/> sich nicht immer dessen recht bewußt, was sie eigentlich im Innersten bewegt<lb/> und treibt. So schmeicheln sich z. B., um vor der Hand Paris allein in<lb/> Betracht zu ziehen, die clericalen Blätter, daß die Gemüther der Hauptstadt<lb/> in diesem Augenblick vorzugsweise von der bevorstehenden ersten Communion<lb/> des kaiserlichen Prinzen in Anspruch genommen werden. Diese Behauptung<lb/> mag, auf einen gewissen Bkuchtheil der Bevölkerung angewendet, vollkommen<lb/> berechtigt sein; ebensogut könnte man aber sagen, Paris dächte jetzt an<lb/> weiter nichts, als an die prächtigen Decorationen und die. wie selbst Sach¬<lb/> kenner bekräftigen, an schönen Passagen reiche Musik des „Hamlet" von<lb/> Thomas, oder daß in den letzten Wochen die Reise des Prinzen Napoleon<lb/> die öffentliche Aufmerksamkeit allein in Anspruch genommen habe. Ja selbst<lb/> der tiefe Eindruck, den die Debatten über die neuen Gesetze, namentlich über<lb/> das Preßgesetz, machen mußten, beschränkt, sich' nur auf einen verhältni߬<lb/> mäßig kleinen Theil der gebildeten Kreise. Greifen wir etwas weiter zurück,<lb/> so begegnen wir der neuen Militärorganisation, deren Wirkung allerdings<lb/> ungleich einschneidender ist, als die übrigen politischen Veränderungen, die<lb/> aber in verschiedenen Theilen Frankeichs mit ganz entgegengesetzten Empfin¬<lb/> dungen aufgenommen ist. Während in den östlichen Provinzen, namentlich<lb/> in Lothringen, die Erhöhung der Kriegsmacht mit Jubel begrüßt wird und<lb/> die vermehrten Lasten aus Besorgniß vor der aufstrebenden Macht Preußens<lb/> willig getragen werden, steht es im Süden und Westen Frankreichs ganz<lb/> anders. Diese entlegeneren Provinzen theilen mit den übrigen den Wunsch<lb/> nach Vergrößerung des Staatsgebietes und die stille Hoffnung, daß das<lb/> linke Rheinufer doch einmal an Frankreich zurückfallen muß; freilich halten<lb/> sie es für ebenso natürlich und unanstößig, wie die wesentlich tonangeben¬<lb/> den Nordfranzosen, daß diese große Nation zur Erhaltung ihrer Lebenskraft<lb/> (viwlite) auf Eroberungen ausgehen müsse; aber zwischen diesen Wünschen<lb/> und Hoffnungen und der geduldigen Uebernahme so schwerer Pflichten<lb/> und drückender Lasten liegt eine weite Kluft, die nicht durch Kriegsbe¬<lb/> geisterung und halberlogene Besorgniß vor preußischen Jnvasionsgelüsten<lb/> ausgefüllt wird. Die Wahrheit ist, daß die Reorganisation des Heeres<lb/> überall einen großen Eindruck auf die Bevölkerung gemacht hat und eine<lb/> noch weit größere Nachwirkung bei ihrer praktischen Durchführung verspricht,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0146]
Freilich ist es nicht immer leicht, unter den vielfachen Beschäftigungen
und Richtungen, die sich bei einem so hoch civilisirten Volke verschlingen,
diejenige herauszuerkennen, welche dem tiefsten Triebe der Zeit entspricht
und um welche sich alle anderen, wie um ihren natürlichen Mittelpunkt,
gruppiren. Am Orte selbst kann man sich darüber täuschen, und nicht blos
die Fremden, denen immer ein wichtiger Theil der nur im Verborgenen her¬
vortretenden Stimmung verloren geht, sondern die Einheimischen selbst sind
sich nicht immer dessen recht bewußt, was sie eigentlich im Innersten bewegt
und treibt. So schmeicheln sich z. B., um vor der Hand Paris allein in
Betracht zu ziehen, die clericalen Blätter, daß die Gemüther der Hauptstadt
in diesem Augenblick vorzugsweise von der bevorstehenden ersten Communion
des kaiserlichen Prinzen in Anspruch genommen werden. Diese Behauptung
mag, auf einen gewissen Bkuchtheil der Bevölkerung angewendet, vollkommen
berechtigt sein; ebensogut könnte man aber sagen, Paris dächte jetzt an
weiter nichts, als an die prächtigen Decorationen und die. wie selbst Sach¬
kenner bekräftigen, an schönen Passagen reiche Musik des „Hamlet" von
Thomas, oder daß in den letzten Wochen die Reise des Prinzen Napoleon
die öffentliche Aufmerksamkeit allein in Anspruch genommen habe. Ja selbst
der tiefe Eindruck, den die Debatten über die neuen Gesetze, namentlich über
das Preßgesetz, machen mußten, beschränkt, sich' nur auf einen verhältni߬
mäßig kleinen Theil der gebildeten Kreise. Greifen wir etwas weiter zurück,
so begegnen wir der neuen Militärorganisation, deren Wirkung allerdings
ungleich einschneidender ist, als die übrigen politischen Veränderungen, die
aber in verschiedenen Theilen Frankeichs mit ganz entgegengesetzten Empfin¬
dungen aufgenommen ist. Während in den östlichen Provinzen, namentlich
in Lothringen, die Erhöhung der Kriegsmacht mit Jubel begrüßt wird und
die vermehrten Lasten aus Besorgniß vor der aufstrebenden Macht Preußens
willig getragen werden, steht es im Süden und Westen Frankreichs ganz
anders. Diese entlegeneren Provinzen theilen mit den übrigen den Wunsch
nach Vergrößerung des Staatsgebietes und die stille Hoffnung, daß das
linke Rheinufer doch einmal an Frankreich zurückfallen muß; freilich halten
sie es für ebenso natürlich und unanstößig, wie die wesentlich tonangeben¬
den Nordfranzosen, daß diese große Nation zur Erhaltung ihrer Lebenskraft
(viwlite) auf Eroberungen ausgehen müsse; aber zwischen diesen Wünschen
und Hoffnungen und der geduldigen Uebernahme so schwerer Pflichten
und drückender Lasten liegt eine weite Kluft, die nicht durch Kriegsbe¬
geisterung und halberlogene Besorgniß vor preußischen Jnvasionsgelüsten
ausgefüllt wird. Die Wahrheit ist, daß die Reorganisation des Heeres
überall einen großen Eindruck auf die Bevölkerung gemacht hat und eine
noch weit größere Nachwirkung bei ihrer praktischen Durchführung verspricht,
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