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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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inne werden müssen." Wie ist es nun aber, wenn sich Jemand durch ein¬
seitige Vorliebe für die Voealmusik den Ausgangspunkt verrückt? Be¬
weist nicht die bloße Möglichkeit der reinen Instrumentalmusik, daß die
Musik, mag sie nun in ihren dunklen Anfängen mit Nachahmung der Natur
begonnen haben oder nicht, ganz gewiß nicht bei ihr stehen geblieben, sondern
überhaupt ganz etwas Anderes geworden ist, in dem Sinne nämlich, als die
wohlarticulirte Sprache eines ausgebildeten Menschen ganz etwas Anderes
ist als die Stimme eines Thieres? Will man Meinungen über eine Sache
citiren, welche sie in ihrem innersten Wesen erklären sollen, so darf man sie
doch nur in einer Zeit suchen, welche diese Sache am gründlichsten verstand.
Daß die Ansicht, die Tonkunst sei unter allen Künsten die einzige, welche die
Natur nicht nachahme, "nagelneu", "kaum ein Menschenalter alt" sei, be¬
weist doch Nichts gegen ihre Nichtigkeit? Also nicht in dem reifsten Zeitalter
einer Kunst hätte man ihr tiefstes Verständniß zu suchen, sondern in einer
Zeit, wo sie noch in der Wiege lag? Und die bloße "Neuheit" einer An¬
schauung disereditirte ihren Werth? Hat Gervinus denn nicht geahnt, daß
seine eigene "nagelneue" Verurteilung der Instrumentalmusik, die ja noch
nicht einmal ein "Menschenalter" alt ist, dadurch in ein schlimmes Licht ge¬
räth? Die Sucht, berühmte Männer des Alterthums über die Tonkunst
sprechen zu lassen, geht durch das ganze Buch und wird im Verlaufe desselben
nur abgelöst durch das ebenso unbegreifliche Bemühen, aus unserem und
dem vergangenen Jahrhundert gerade die Aussprüche derjenigen Schriftsteller
anzuführen, bei denen man Alles findet, nur nicht gerade ein specifisch
musikalisches Verständniß, wie Lessing, Hegel und Göthe. Man weiß bei
diesem Verfahren nicht recht, wen Gervinus eigentlich damit düpiren will, sich
selbst oder das Publicum. Wer es unternommen, gegen den gesunden
Menschenverstand einer Kunst zu schreiben, der kann citiren wen und was
er will, die Musen geben ihm doch keinen Credit. In unserer Jahrhundert¬
mitte noch behaupten, die Musik nehme sich ihre Anlässe nicht rein aus sich
selbst, sie müsse mit dem Wort Hausirer gehn, ihr Ton sei eine Nachahmung
von dem was klingt und rauscht und zwitschert, das heißt erklären, daß
man in dieser Kunst ein völlig Fremder ist.

Um aber den Gervinus'schen Gedankengang, dessen letztes Resultat, die
Verurtheilung der reinen Instrumentalmusik, sogleich näher beleuchtet werden
soll, vollkommen würdigen zu können, bedarf es eines Abstechers in den
zweiten Abschnitt des Buches: "zur Aesthetik der Tonkunst". Ließe sich Musik
mit dem Verstände allein messen, bedürfte es zu ihrer Erkenntniß nicht neben
diesem einer ganz eigenthümlichen Gemüthsanlage, welche die exclusive Fähig¬
keit besitzt, das Törtchen ohne jede weitere Auslegung unmittelbar auf sich
wirken zu lassen, so hätte die Gervinus'sche Interpretation einen Sinn, weil


inne werden müssen." Wie ist es nun aber, wenn sich Jemand durch ein¬
seitige Vorliebe für die Voealmusik den Ausgangspunkt verrückt? Be¬
weist nicht die bloße Möglichkeit der reinen Instrumentalmusik, daß die
Musik, mag sie nun in ihren dunklen Anfängen mit Nachahmung der Natur
begonnen haben oder nicht, ganz gewiß nicht bei ihr stehen geblieben, sondern
überhaupt ganz etwas Anderes geworden ist, in dem Sinne nämlich, als die
wohlarticulirte Sprache eines ausgebildeten Menschen ganz etwas Anderes
ist als die Stimme eines Thieres? Will man Meinungen über eine Sache
citiren, welche sie in ihrem innersten Wesen erklären sollen, so darf man sie
doch nur in einer Zeit suchen, welche diese Sache am gründlichsten verstand.
Daß die Ansicht, die Tonkunst sei unter allen Künsten die einzige, welche die
Natur nicht nachahme, „nagelneu", „kaum ein Menschenalter alt" sei, be¬
weist doch Nichts gegen ihre Nichtigkeit? Also nicht in dem reifsten Zeitalter
einer Kunst hätte man ihr tiefstes Verständniß zu suchen, sondern in einer
Zeit, wo sie noch in der Wiege lag? Und die bloße „Neuheit" einer An¬
schauung disereditirte ihren Werth? Hat Gervinus denn nicht geahnt, daß
seine eigene „nagelneue" Verurteilung der Instrumentalmusik, die ja noch
nicht einmal ein „Menschenalter" alt ist, dadurch in ein schlimmes Licht ge¬
räth? Die Sucht, berühmte Männer des Alterthums über die Tonkunst
sprechen zu lassen, geht durch das ganze Buch und wird im Verlaufe desselben
nur abgelöst durch das ebenso unbegreifliche Bemühen, aus unserem und
dem vergangenen Jahrhundert gerade die Aussprüche derjenigen Schriftsteller
anzuführen, bei denen man Alles findet, nur nicht gerade ein specifisch
musikalisches Verständniß, wie Lessing, Hegel und Göthe. Man weiß bei
diesem Verfahren nicht recht, wen Gervinus eigentlich damit düpiren will, sich
selbst oder das Publicum. Wer es unternommen, gegen den gesunden
Menschenverstand einer Kunst zu schreiben, der kann citiren wen und was
er will, die Musen geben ihm doch keinen Credit. In unserer Jahrhundert¬
mitte noch behaupten, die Musik nehme sich ihre Anlässe nicht rein aus sich
selbst, sie müsse mit dem Wort Hausirer gehn, ihr Ton sei eine Nachahmung
von dem was klingt und rauscht und zwitschert, das heißt erklären, daß
man in dieser Kunst ein völlig Fremder ist.

Um aber den Gervinus'schen Gedankengang, dessen letztes Resultat, die
Verurtheilung der reinen Instrumentalmusik, sogleich näher beleuchtet werden
soll, vollkommen würdigen zu können, bedarf es eines Abstechers in den
zweiten Abschnitt des Buches: „zur Aesthetik der Tonkunst". Ließe sich Musik
mit dem Verstände allein messen, bedürfte es zu ihrer Erkenntniß nicht neben
diesem einer ganz eigenthümlichen Gemüthsanlage, welche die exclusive Fähig¬
keit besitzt, das Törtchen ohne jede weitere Auslegung unmittelbar auf sich
wirken zu lassen, so hätte die Gervinus'sche Interpretation einen Sinn, weil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/524>, abgerufen am 06.02.2025.