Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.von sich unterfangen hätte, über eine Kunst zu Gericht zu sitzen, von der er In dem ersten Abschnitt seines Buches gibt Gervinus mit antiquarischen Grenzboten IV. 1868. 62
von sich unterfangen hätte, über eine Kunst zu Gericht zu sitzen, von der er In dem ersten Abschnitt seines Buches gibt Gervinus mit antiquarischen Grenzboten IV. 1868. 62
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von sich unterfangen hätte, über eine Kunst zu Gericht zu sitzen, von der er
nur eine einzelne Erscheinung begreift oder zu begreifen meint. Der aus¬
schließliche Enthusiasmus für einen einzelnen Künstler — er stehe nun so
hoch er wolle — würde selbst da immer von dem bedenklichsten Werthe
sein, wo eine vollkommene Bekanntschaft mit allen anderen vorauszusetzen
wäre, weil alles Ausschließliche zur Schranke und zur Beschränktheit führt:
welche Bedeutung soll man ihm aber in dem Munde eines Mannes ein¬
räumen, der von Bach fast gar nicht und von Beethoven als einem Irrenden
spricht? Wenn ein Privatmann zu den tristen und barocken Resultaten des
Gervinus'schen Buches gelangte, so könnte man ihn als eine Curiosität gelten
lassen: die vernünftige Gesellschaft wird ihm dem Wunderstuhl, auf den er
sich setzt, mit der Dankbarkeit des Humors gönnen. Tastet jedoch ein Mann,
der alle Ursache hat sich für berühmt zu halten, in einem umfangreichen
Buche das Vermögen der Tonkunst an, leugnet und verhöhnt er ihre größten
Meister, spricht er einem wesentlichen Theil ihrer Macht alle Berechtigung
ab, so hat der Humor Nichts mehr mit ihm zu schaffen, sondern nur noch
die beleidigte Kunst, welche Abwehr gebietet solchen unberufenen Ein¬
mischungen.
In dem ersten Abschnitt seines Buches gibt Gervinus mit antiquarischen
Behagen eine historische Studie über die ersten Phasen der Tonkunst. Wer
sich über diese Dinge instruiren will, thut besser das Buch von Ambros zu
lesen, weil es sachlicher und concreter ist. Trotzdem wird man der geist¬
reichen Behandlung dieses dunkeln Stoffes seine Bewunderung nicht entziehen
können. Die Abhandlung wird charakteristisch genug mit dem Aristotelischen
Satz von der auf Nachahmung beruhenden Natur aller Künste, also auch
der Musik, eröffnet. Das Resultat der sich hieran knüpfenden Untersuchung
beruht in dem tiefsinnigen Satze, daß „der Ton der Gegenstand der Nach¬
bildung für die Tonkunst" sei. Also der Ton. Was denn nun für ein
Ton? Zugegeben selbst, daß aller Tonkunst Anfang der „Sprachgesang"
gewesen sei. was ahmte der Grieche denn nach, wenn seine Sprache sich zum
Gesang erhob? Was Wasser und Winde rauschen oder was die Nachtigall
schlägt? „Es ist ganz nagelneu" sagt Gervinus, „nicht länger als ein
Menschenalter her, daß eine entgegengesetzte Behauptung auftauchte, welche
die Tonkunst als eine abgeschiedene Welt für sich dem Gerichtsbann der
übrigen Künste entziehen möchte, ableugnend, daß ihr wie der Malerei, der
Sculptur oder Dichtung in der Natur ein bestimmtes Vorbild zur Nach¬
ahmung gegeben sei" und fährt bald darauf fort: „wie irrig und ober¬
flächlich dieser Gedanke sei, hätten selbst die oberflächlichsten Nachdenker und
Nachforscher, wenn sie sich nur mit der einseitigen Vorliebe für die In¬
strumentalmusik nicht den Ausgangspunkt hätten verrücken wollen, leicht
Grenzboten IV. 1868. 62
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