Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.sie in ihrer Weise streng logisch verfährt. Hat der Verfasser damit angefangen, 62*
sie in ihrer Weise streng logisch verfährt. Hat der Verfasser damit angefangen, 62*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0525" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287797"/> <p xml:id="ID_1326" prev="#ID_1325" next="#ID_1327"> sie in ihrer Weise streng logisch verfährt. Hat der Verfasser damit angefangen,<lb/> die Musik in den Chor der übrigen Künste als eine von ihnen nicht wesent¬<lb/> lich verschiedene einzureihen, hat er sie mit Aristoteles auf der Nachahmung<lb/> der Natur überrascht, so ist es nur folgerecht, wenn er an der alten Formel<lb/> „das Wesen der Tonkunst sei der Ausdruck von Empfindungen" festhält und<lb/> über den Dehn'schen Satz, daß sie solche nur „anrege" — obwohl er die<lb/> Sache unendlich tiefer trifft — mit Spott und Geringschätzung hinweggeht.<lb/> Das bloße „Anregen" ist dem Verfasser schon zu subtil; er nimmt nur solche<lb/> Münze, die sich überall, in jedem anderen Fache, einwechseln läßt, deren Ge¬<lb/> halt er aus Heller und Pfennig ästhetisch calculiren kann. Diese Caleula-<lb/> tionssucht ist sein Stolz und sein Unglück zugleich. Jene unübersetzbaren<lb/> Werthe einer Macht, welche zwischen Himmel und Erde die wunderbare<lb/> Mitte hält und das durch keine andere Kunst Aussprechbare, das ewig Un¬<lb/> nennbare, in ihrer geheimnißvollen Weise zu verkünden weiß — ihm sind sie<lb/> ungestalte Wirrniß, Dämmerung, Nebel. Und ein Mann, dem die Natur<lb/> dies specielle Organ versagt hat, dem jede Melodie, die nicht einen Zettel im<lb/> Munde trägt, zur Faselei wird, wirst sich zum Richter auf! Das Wesen der<lb/> Tonkunst ist ihm also nur der Ausdruck von Empfindungen, und auf diesem<lb/> Gebiete der Empfindungen, oder wie der Verfasser sich schamhaft ausdrückt<lb/> „in diesem Geschäfte der Orientirung" (S. 207) sich umzuschauen, versuchen<lb/> sich nun ästhetische Erörterungen, welche mit schönem Glauben an die Muße<lb/> seiner Leser den anspruchslosen Raum von 113 Seiten (S. 207—322) ein¬<lb/> nehmen. Um einen Begriff von. der theoretischen Haarspalterei des Buches<lb/> zu geben, mögen die Gruppen der Empfindungen hier einen Platz finden,<lb/> welche der Verfasser aus ihre musikalische Darstellbarkeit hin recognoscirt.<lb/> Zunächst werden die Gefühle in solche der Lust oder Unlust eingetheilt.<lb/> Beide werden körperlich oder psychisch empfunden. Die psychischen Ge¬<lb/> fühle zerfallen in drei Stufen: Gefühlsstimmungen, Gemüthsbe¬<lb/> wegungen (Affecte) und die eigentlichen Gefühle. Die Gesühlsstim-<lb/> mungen werden wieder untergeordnet in habituelle, vorüberg eh ende und<lb/> drittens noch flüchtiger vorübergehende. (Es ist hier nicht ersichtlich,<lb/> warum nicht noch eine Gruppe der „am allerflüchtigsten vorübergehenden" notirt<lb/> ist.) Bet der dritten Kategorie macht Gervinus die Bemerkung, daß die In¬<lb/> strumentalmusik „in diese dunkelsten Regionen des Gefühlslebens, anfangs<lb/> ohne Wissen und Willen, in der bloßen Kraft ihrer eigenen dämmerigen....<lb/> Natur hineingerathen ist und daß sie dann......mit bewußter Absicht sich<lb/> darin niederließ" (S. 226). In die „noch flüchtiger vorübergehenden"? Wer<lb/> es dem Autor nur verrathen hat, daß es so und nicht anders gekommen!<lb/> Bei seiner seinen Empfindung für instrumentale Kunst möchten wir ihn doch</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 62*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0525]
sie in ihrer Weise streng logisch verfährt. Hat der Verfasser damit angefangen,
die Musik in den Chor der übrigen Künste als eine von ihnen nicht wesent¬
lich verschiedene einzureihen, hat er sie mit Aristoteles auf der Nachahmung
der Natur überrascht, so ist es nur folgerecht, wenn er an der alten Formel
„das Wesen der Tonkunst sei der Ausdruck von Empfindungen" festhält und
über den Dehn'schen Satz, daß sie solche nur „anrege" — obwohl er die
Sache unendlich tiefer trifft — mit Spott und Geringschätzung hinweggeht.
Das bloße „Anregen" ist dem Verfasser schon zu subtil; er nimmt nur solche
Münze, die sich überall, in jedem anderen Fache, einwechseln läßt, deren Ge¬
halt er aus Heller und Pfennig ästhetisch calculiren kann. Diese Caleula-
tionssucht ist sein Stolz und sein Unglück zugleich. Jene unübersetzbaren
Werthe einer Macht, welche zwischen Himmel und Erde die wunderbare
Mitte hält und das durch keine andere Kunst Aussprechbare, das ewig Un¬
nennbare, in ihrer geheimnißvollen Weise zu verkünden weiß — ihm sind sie
ungestalte Wirrniß, Dämmerung, Nebel. Und ein Mann, dem die Natur
dies specielle Organ versagt hat, dem jede Melodie, die nicht einen Zettel im
Munde trägt, zur Faselei wird, wirst sich zum Richter auf! Das Wesen der
Tonkunst ist ihm also nur der Ausdruck von Empfindungen, und auf diesem
Gebiete der Empfindungen, oder wie der Verfasser sich schamhaft ausdrückt
„in diesem Geschäfte der Orientirung" (S. 207) sich umzuschauen, versuchen
sich nun ästhetische Erörterungen, welche mit schönem Glauben an die Muße
seiner Leser den anspruchslosen Raum von 113 Seiten (S. 207—322) ein¬
nehmen. Um einen Begriff von. der theoretischen Haarspalterei des Buches
zu geben, mögen die Gruppen der Empfindungen hier einen Platz finden,
welche der Verfasser aus ihre musikalische Darstellbarkeit hin recognoscirt.
Zunächst werden die Gefühle in solche der Lust oder Unlust eingetheilt.
Beide werden körperlich oder psychisch empfunden. Die psychischen Ge¬
fühle zerfallen in drei Stufen: Gefühlsstimmungen, Gemüthsbe¬
wegungen (Affecte) und die eigentlichen Gefühle. Die Gesühlsstim-
mungen werden wieder untergeordnet in habituelle, vorüberg eh ende und
drittens noch flüchtiger vorübergehende. (Es ist hier nicht ersichtlich,
warum nicht noch eine Gruppe der „am allerflüchtigsten vorübergehenden" notirt
ist.) Bet der dritten Kategorie macht Gervinus die Bemerkung, daß die In¬
strumentalmusik „in diese dunkelsten Regionen des Gefühlslebens, anfangs
ohne Wissen und Willen, in der bloßen Kraft ihrer eigenen dämmerigen....
Natur hineingerathen ist und daß sie dann......mit bewußter Absicht sich
darin niederließ" (S. 226). In die „noch flüchtiger vorübergehenden"? Wer
es dem Autor nur verrathen hat, daß es so und nicht anders gekommen!
Bei seiner seinen Empfindung für instrumentale Kunst möchten wir ihn doch
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