Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.es nicht so, könnte auch dieser theoretische Theil Ihre Beistimmung erhalten Wieviel "Zeit und Weile" Gervinus der "übrigen Welt" (der ganzen es nicht so, könnte auch dieser theoretische Theil Ihre Beistimmung erhalten Wieviel „Zeit und Weile" Gervinus der „übrigen Welt" (der ganzen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0522" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287794"/> <p xml:id="ID_1320" prev="#ID_1319"> es nicht so, könnte auch dieser theoretische Theil Ihre Beistimmung erhalten<lb/> so wären alle meine Ringe, für mich zunächst, gestochen. Die Stimme der<lb/> übrigen Welt wird auf alle Fälle Zeit und Weile brauchen, sich<lb/> zu entscheiden".</p><lb/> <p xml:id="ID_1321" next="#ID_1322"> Wieviel „Zeit und Weile" Gervinus der „übrigen Welt" (der ganzen<lb/> nämlich, mit Ausnahme Chrysander's) gönnen will, hat er in seiner orakel¬<lb/> haften Sprache nicht verkündet. Es gibt im Leben Auszeichnungen, über<lb/> denen ein gesunder Kopf den Verstand verlieren könnte. Zu diesen Aus¬<lb/> zeichnungen darf man wohl auch die Sonderstellung rechnen, zu der Gervinus<lb/> Herrn Chrysander erkoren hat. Doch das mögen die Herren mit einander<lb/> abmachen. Herr Gervinus mag es in seiner pretiösen Weise zweifelhaft<lb/> finden, „ob derjenige Tonkünstler, der sich zu einer Antwort am geneigtesten<lb/> zeigen sollte, auch am geeignetsten dazu sei"; aber nicht von seiner Zustimmung,<lb/> sondern von der der „übrigen Welt" wird es ja ganz allein abhängen zu<lb/> entscheiden, ob Beruf und Neigung hier mit einander gehen oder nicht.<lb/> Doch zur Sache. Zur Beurtheilung einer Kunst im Ganzen ist nach des<lb/> Verfassers überzähliger Aufzählung „nicht der verstandeskalte Naturforscher,<lb/> der irrlichtelirende Kunstphantast, der systemfrohe Philosoph, der klügelnde<lb/> Künstler und Techniker, der herbe Kenner von eigensinniger Einseitigkeit,<lb/> der süßliche Liebhaber von verschwommener Geschmacksbildung, der denkende<lb/> Kopf, der nicht empfinden, die empfindsame Seele, die nicht denken, der<lb/> genußsüchtige Feinhörer, der weder denken noch empfinden kann" berufen.<lb/> Luft, Clavigo! Diese Stylprobe mag beweisen, wie sehr es dem ganzen<lb/> Buche an der rechten Ventilation fehlt. Ueberall ein Gedränge von in<lb/> fürstlichen Gewändern einherschreitenden Gedanken, die sich gegenseitig die<lb/> Schleppen abtreten. Hätte Gervinus statt der luxuriösen Reihe von Ne»<lb/> gationen doch lieber positiv gesagt, welche Eigenschaften ein Kunsturtheil<lb/> haben muß, um Etwas zu gelten. Nicht partielle Kennerschaft, nicht all¬<lb/> gemeine Bildung allein berechtigen einen Mann, sich zum Schiedsrichter einer<lb/> Kunst aufzuwerfen, sondern vor allen Dingen und in erster Reihe die ächte<lb/> Pietät vor der geschichtlichen Entwickelung derselben. Ein Laie, wie sich<lb/> Gervinus mit vielseitigem Erkennen selbst nennt, müßte, wenn er eine wesent¬<lb/> liche, unendlich bedeutungsvolle, ja man kann wohl sagen die größte und<lb/> eigenthümlichste Entwickelung einer Kunst nicht begriff, für diesen Mangel<lb/> seines Fassungsvermögens nicht die Kunst selbst verantwortlich machen wollen.<lb/> Das ist gerade so, als wollte Jemand, blos weil er selbst nicht ohne Stütze<lb/> gehen kann, von einem Anderen verlangen, daß er Krücken trüge. Es ist<lb/> zu bezweifeln, daß es in der Geschichte der Kritik jemals das Beispiel eines<lb/> Unberufenen gegeben hat, der sich ohne alles eigentliche Kennerthum, nur'<lb/> gestützt auf seine allgemeine Bildung und seine noch allgemeinere Meinung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0522]
es nicht so, könnte auch dieser theoretische Theil Ihre Beistimmung erhalten
so wären alle meine Ringe, für mich zunächst, gestochen. Die Stimme der
übrigen Welt wird auf alle Fälle Zeit und Weile brauchen, sich
zu entscheiden".
Wieviel „Zeit und Weile" Gervinus der „übrigen Welt" (der ganzen
nämlich, mit Ausnahme Chrysander's) gönnen will, hat er in seiner orakel¬
haften Sprache nicht verkündet. Es gibt im Leben Auszeichnungen, über
denen ein gesunder Kopf den Verstand verlieren könnte. Zu diesen Aus¬
zeichnungen darf man wohl auch die Sonderstellung rechnen, zu der Gervinus
Herrn Chrysander erkoren hat. Doch das mögen die Herren mit einander
abmachen. Herr Gervinus mag es in seiner pretiösen Weise zweifelhaft
finden, „ob derjenige Tonkünstler, der sich zu einer Antwort am geneigtesten
zeigen sollte, auch am geeignetsten dazu sei"; aber nicht von seiner Zustimmung,
sondern von der der „übrigen Welt" wird es ja ganz allein abhängen zu
entscheiden, ob Beruf und Neigung hier mit einander gehen oder nicht.
Doch zur Sache. Zur Beurtheilung einer Kunst im Ganzen ist nach des
Verfassers überzähliger Aufzählung „nicht der verstandeskalte Naturforscher,
der irrlichtelirende Kunstphantast, der systemfrohe Philosoph, der klügelnde
Künstler und Techniker, der herbe Kenner von eigensinniger Einseitigkeit,
der süßliche Liebhaber von verschwommener Geschmacksbildung, der denkende
Kopf, der nicht empfinden, die empfindsame Seele, die nicht denken, der
genußsüchtige Feinhörer, der weder denken noch empfinden kann" berufen.
Luft, Clavigo! Diese Stylprobe mag beweisen, wie sehr es dem ganzen
Buche an der rechten Ventilation fehlt. Ueberall ein Gedränge von in
fürstlichen Gewändern einherschreitenden Gedanken, die sich gegenseitig die
Schleppen abtreten. Hätte Gervinus statt der luxuriösen Reihe von Ne»
gationen doch lieber positiv gesagt, welche Eigenschaften ein Kunsturtheil
haben muß, um Etwas zu gelten. Nicht partielle Kennerschaft, nicht all¬
gemeine Bildung allein berechtigen einen Mann, sich zum Schiedsrichter einer
Kunst aufzuwerfen, sondern vor allen Dingen und in erster Reihe die ächte
Pietät vor der geschichtlichen Entwickelung derselben. Ein Laie, wie sich
Gervinus mit vielseitigem Erkennen selbst nennt, müßte, wenn er eine wesent¬
liche, unendlich bedeutungsvolle, ja man kann wohl sagen die größte und
eigenthümlichste Entwickelung einer Kunst nicht begriff, für diesen Mangel
seines Fassungsvermögens nicht die Kunst selbst verantwortlich machen wollen.
Das ist gerade so, als wollte Jemand, blos weil er selbst nicht ohne Stütze
gehen kann, von einem Anderen verlangen, daß er Krücken trüge. Es ist
zu bezweifeln, daß es in der Geschichte der Kritik jemals das Beispiel eines
Unberufenen gegeben hat, der sich ohne alles eigentliche Kennerthum, nur'
gestützt auf seine allgemeine Bildung und seine noch allgemeinere Meinung
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