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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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spätsten Ankunft in Jrkutsk war gleichfalls ein Sturm auf dem Bai¬
kalsee. --

Den 20. Juli 1832 trennte ich mich von meinen Kameraden und von
meinem Gefängniß: gern und und freudig verließ ich die eingeschlossene Zelle,
traurig und besorgt die zurückbleibenden Gefangenen. Gemeinsame Erinner¬
ungen und Leiden hatten uns fester aneinander geknüpft, als Verwandschafts-
bande es thun können. -- Nicht weniger schwer war es mir, mich von un-
seren Damen zu trennen; mit Entsagung und Entbehrung hatten sie Alles
gethan, um unseren Zustand zu erleichtern, sie selbst litten mehr, als wir;
auch sie wünschte ich wiederzusehen -- aber wo und wann? Niemand gab mir
Antwort. -- Am Gefängnißthore standen zwei Postwagen, ein Unterofficier
und ein Soldat sollten mich begleiten. Der Commandant Levarsky ließ mich
in die Wachtstube rufen, wo er von mir Abschied nahm und höflich bedauerte,
daß er nicht früher meine Bekanntschaft gemacht habe; ich bat ihn, meine
Unglücksgefährten zu schonen, wie er es bis jetzt gethan habe. Als ich
die Stufen der Wachtstube herabstieg, sah ich meine Kameraden noch ein¬
mal sich an das Thor drängen und mir Lebewohl zurufen. -- Ich reiste
mit M. N. Glebow bis Werchne-Udinsk. wo wir uns trennten, weil er in
der Nähe dieser Stadt, im Dorfe Kabansk, angesiedelt wurde; er starb da¬
selbst zwanzig Jahre später, 1852. Ich fuhr möglichst rasch und ohne mich
aufzuhalten; die reizenden Ufer der Selenga flogen an meinen Augen vor¬
über, die hellen Tage und Nächte erleuchteten alle Schönheiten derselben bald
mit grellem, bald mit blassem Licht, aber meine Gedanken waren in Jrkutsk
bei meiner Frau und meinem Kinde, in dem kürzlich verlassenen Gefängnisse
kaum daß ich auf meine Umgebung Acht gab. Ich fuhr nicht zum Pot-
solsky-Kloster, wo gewöhnlich die Fahrzeuge im Hafen liegen, sondern dem
Rathe meiner Begleiter folgend längs des Ufers der Selenga zum kleinen
Flußhafen Tschertovkino. von wo aus große Fischerfahrzeuge nach Jrkutsk
gehen, indem sie aus der Mündung der Selenga in den Baikalsee einlaufen.
Kaum hatte ich mich dem Dorfe Tschertovkino genähert, als ich in der Ent¬
fernung einer Werst eine vor kurzer Zeit abgegangene Barke bemerkte; im
Hafen waren keine anderen Fahrzeuge; mir blieb nur ein Mittel übrig --
die schwimmende Barke am Ufer fahrend einzuholen. -- Indem wir durch
das Dorf jagten, hörte ich ein kreischendes Zurufen, daß sich einige Mal wie¬
derholte: ich sah mich um und erblickte einen Menschen, der meinem Post¬
wagen nachlief, mit der Hand winkte und dann vom Laufen erschöpft nie¬
derstürzte. Ich kehrte um, hob den Menschen auf und erkannte meinen
Wacht- und Geleitesoldaten in Tschita und Petrowsk, den mit dem Georgien¬
orden belohnten Wisgunow, der vor einigen Monaten seinen Abschied be¬
kommen hatte und mich nun inständigst anflehte, ihn mitzunehmen. -- "Ich


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spätsten Ankunft in Jrkutsk war gleichfalls ein Sturm auf dem Bai¬
kalsee. —

Den 20. Juli 1832 trennte ich mich von meinen Kameraden und von
meinem Gefängniß: gern und und freudig verließ ich die eingeschlossene Zelle,
traurig und besorgt die zurückbleibenden Gefangenen. Gemeinsame Erinner¬
ungen und Leiden hatten uns fester aneinander geknüpft, als Verwandschafts-
bande es thun können. — Nicht weniger schwer war es mir, mich von un-
seren Damen zu trennen; mit Entsagung und Entbehrung hatten sie Alles
gethan, um unseren Zustand zu erleichtern, sie selbst litten mehr, als wir;
auch sie wünschte ich wiederzusehen — aber wo und wann? Niemand gab mir
Antwort. — Am Gefängnißthore standen zwei Postwagen, ein Unterofficier
und ein Soldat sollten mich begleiten. Der Commandant Levarsky ließ mich
in die Wachtstube rufen, wo er von mir Abschied nahm und höflich bedauerte,
daß er nicht früher meine Bekanntschaft gemacht habe; ich bat ihn, meine
Unglücksgefährten zu schonen, wie er es bis jetzt gethan habe. Als ich
die Stufen der Wachtstube herabstieg, sah ich meine Kameraden noch ein¬
mal sich an das Thor drängen und mir Lebewohl zurufen. — Ich reiste
mit M. N. Glebow bis Werchne-Udinsk. wo wir uns trennten, weil er in
der Nähe dieser Stadt, im Dorfe Kabansk, angesiedelt wurde; er starb da¬
selbst zwanzig Jahre später, 1852. Ich fuhr möglichst rasch und ohne mich
aufzuhalten; die reizenden Ufer der Selenga flogen an meinen Augen vor¬
über, die hellen Tage und Nächte erleuchteten alle Schönheiten derselben bald
mit grellem, bald mit blassem Licht, aber meine Gedanken waren in Jrkutsk
bei meiner Frau und meinem Kinde, in dem kürzlich verlassenen Gefängnisse
kaum daß ich auf meine Umgebung Acht gab. Ich fuhr nicht zum Pot-
solsky-Kloster, wo gewöhnlich die Fahrzeuge im Hafen liegen, sondern dem
Rathe meiner Begleiter folgend längs des Ufers der Selenga zum kleinen
Flußhafen Tschertovkino. von wo aus große Fischerfahrzeuge nach Jrkutsk
gehen, indem sie aus der Mündung der Selenga in den Baikalsee einlaufen.
Kaum hatte ich mich dem Dorfe Tschertovkino genähert, als ich in der Ent¬
fernung einer Werst eine vor kurzer Zeit abgegangene Barke bemerkte; im
Hafen waren keine anderen Fahrzeuge; mir blieb nur ein Mittel übrig —
die schwimmende Barke am Ufer fahrend einzuholen. — Indem wir durch
das Dorf jagten, hörte ich ein kreischendes Zurufen, daß sich einige Mal wie¬
derholte: ich sah mich um und erblickte einen Menschen, der meinem Post¬
wagen nachlief, mit der Hand winkte und dann vom Laufen erschöpft nie¬
derstürzte. Ich kehrte um, hob den Menschen auf und erkannte meinen
Wacht- und Geleitesoldaten in Tschita und Petrowsk, den mit dem Georgien¬
orden belohnten Wisgunow, der vor einigen Monaten seinen Abschied be¬
kommen hatte und mich nun inständigst anflehte, ihn mitzunehmen. — „Ich


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[0457] spätsten Ankunft in Jrkutsk war gleichfalls ein Sturm auf dem Bai¬ kalsee. — Den 20. Juli 1832 trennte ich mich von meinen Kameraden und von meinem Gefängniß: gern und und freudig verließ ich die eingeschlossene Zelle, traurig und besorgt die zurückbleibenden Gefangenen. Gemeinsame Erinner¬ ungen und Leiden hatten uns fester aneinander geknüpft, als Verwandschafts- bande es thun können. — Nicht weniger schwer war es mir, mich von un- seren Damen zu trennen; mit Entsagung und Entbehrung hatten sie Alles gethan, um unseren Zustand zu erleichtern, sie selbst litten mehr, als wir; auch sie wünschte ich wiederzusehen — aber wo und wann? Niemand gab mir Antwort. — Am Gefängnißthore standen zwei Postwagen, ein Unterofficier und ein Soldat sollten mich begleiten. Der Commandant Levarsky ließ mich in die Wachtstube rufen, wo er von mir Abschied nahm und höflich bedauerte, daß er nicht früher meine Bekanntschaft gemacht habe; ich bat ihn, meine Unglücksgefährten zu schonen, wie er es bis jetzt gethan habe. Als ich die Stufen der Wachtstube herabstieg, sah ich meine Kameraden noch ein¬ mal sich an das Thor drängen und mir Lebewohl zurufen. — Ich reiste mit M. N. Glebow bis Werchne-Udinsk. wo wir uns trennten, weil er in der Nähe dieser Stadt, im Dorfe Kabansk, angesiedelt wurde; er starb da¬ selbst zwanzig Jahre später, 1852. Ich fuhr möglichst rasch und ohne mich aufzuhalten; die reizenden Ufer der Selenga flogen an meinen Augen vor¬ über, die hellen Tage und Nächte erleuchteten alle Schönheiten derselben bald mit grellem, bald mit blassem Licht, aber meine Gedanken waren in Jrkutsk bei meiner Frau und meinem Kinde, in dem kürzlich verlassenen Gefängnisse kaum daß ich auf meine Umgebung Acht gab. Ich fuhr nicht zum Pot- solsky-Kloster, wo gewöhnlich die Fahrzeuge im Hafen liegen, sondern dem Rathe meiner Begleiter folgend längs des Ufers der Selenga zum kleinen Flußhafen Tschertovkino. von wo aus große Fischerfahrzeuge nach Jrkutsk gehen, indem sie aus der Mündung der Selenga in den Baikalsee einlaufen. Kaum hatte ich mich dem Dorfe Tschertovkino genähert, als ich in der Ent¬ fernung einer Werst eine vor kurzer Zeit abgegangene Barke bemerkte; im Hafen waren keine anderen Fahrzeuge; mir blieb nur ein Mittel übrig — die schwimmende Barke am Ufer fahrend einzuholen. — Indem wir durch das Dorf jagten, hörte ich ein kreischendes Zurufen, daß sich einige Mal wie¬ derholte: ich sah mich um und erblickte einen Menschen, der meinem Post¬ wagen nachlief, mit der Hand winkte und dann vom Laufen erschöpft nie¬ derstürzte. Ich kehrte um, hob den Menschen auf und erkannte meinen Wacht- und Geleitesoldaten in Tschita und Petrowsk, den mit dem Georgien¬ orden belohnten Wisgunow, der vor einigen Monaten seinen Abschied be¬ kommen hatte und mich nun inständigst anflehte, ihn mitzunehmen. — „Ich ö4*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/457>, abgerufen am 05.02.2025.