Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Westsibirien anzusiedeln und daß diese Bitte erhört worden war; dameine Frau Westsibirien anzusiedeln und daß diese Bitte erhört worden war; dameine Frau <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287728"/> <p xml:id="ID_1141" prev="#ID_1140" next="#ID_1142"> Westsibirien anzusiedeln und daß diese Bitte erhört worden war; dameine Frau<lb/> Ende August ihre Entbindung erwartete, so überredete ich sie, schon den 3.<lb/> Juli nach Jrkutsk voraus zu reisen und daselbst die Expedition der erfor¬<lb/> derlichen officiellen Papiere auszuwirken, damit wir gleich nach meiner An¬<lb/> kunft unsere weite Reise fortsetzen könnten. Den 2. Juli trug ich meinen<lb/> Sohn Conrad zu mir ins Gefängniß um von ihm Abschied zu nehmen; das<lb/> Kind hatte einen hellblauen Mantel um sich, den Fürst Obolensky ihm mit<lb/> großer Geschicklichkeit genäht hatte, und wurde nicht verlegen, als meine Ka¬<lb/> meraden es umringten und mit sichtbarem Antheil liebkosten. Meine Frau<lb/> nahm einen rührenden Abschied von unseren treuen Gefährten; unsere Damen<lb/> fürchteten für ihre Gesundheit und ihren Zustand, dem die Strapazen der be¬<lb/> vorstehenden Reise gefährlich werden konnten. Alerandrine Murawjew schickte<lb/> ihr einen zusammenzuklappenden Reisesessel, bot ihr tausend Sachen an und<lb/> beredete sie, während der Ueberfahrt über den Baikalsee eine Kuh mitzuneh¬<lb/> men, damit das Kind zu jeder Stunde frische Milch haben könne. Torson<lb/> verfertigte eine Hängematte aus Segeltuch, N. Bestushew Schrauben und<lb/> Schnallen, mit denen er das Bettchen an das Verdeck der Kalesche befestigte,<lb/> in welcher meine Frau die Ueberfahrt machen sollte. — Den 3. Juli trat<lb/> meine Frau die Reise an; ohne Aufenthalt erreichte sie das Ufer des Baikal,<lb/> wo sie ein Fischerboot mit Segeln miethete; die Kalesche wurde aufgerollt<lb/> und so ging es in Begleitung der Fischer und einiger Reisegefährten in See.<lb/> Mitten auf dem Baikal erhob sich ein Sturm, der einige Tage anhielt und<lb/> das Fahrzeug auf derselben Stelle hin und her schaukelte. Mein Sohn wurde<lb/> krank, die vorräthig mitgenommene Milch sauer, abgekochte Milch wollte er nicht<lb/> trinken; anfangs begnügte er sich mit Reiswasser, zuletzt nahm er gar keine<lb/> Nahrung zu sich: er schien dem Tode nah. Den fünften Tag legte sich der<lb/> Sturm, der Wind wurde günstig und nach einigen Stunden konnten die Schif¬<lb/> fer landen. Meine Frau erinnert sich noch heute mit Entzücken des Augen¬<lb/> blicks als sie wieder aufs Land kam und ihren kranken Sohn nach fünftägi¬<lb/> gen Leiden und Hunger wieder mit frischer Milch erquicken konnte. — Sie<lb/> langte den 12. Juli in Jrkutsk an und erwartete mich am folgenden Tage; aber<lb/> ich traf erst zwei Wochen später ein. Die Verspätung meiner Ankunft hatte<lb/> zwei Ursachen. Der Generalgouvemeur Lawinsky besichtigte damals seine<lb/> Gouvernements und hatte vergessen unsern Commandanten rechtzeitig über<lb/> meinen Bestimmungsort zu benachrichtigen. Leparsky erhielt dieses Papier<lb/> erst am 20. und fertigte mich noch an demselben Tage ab; so mußte ich neun<lb/> Tage über den Termin im Gefängniß bleiben. — Bald nach meiner Ab¬<lb/> reise wurden die Termine der Gefangenschaft und Strafarbeit auch für meine<lb/> nachgebliebenen Kameraden in Veranlassung der Geburt des Großfürsten<lb/> Michail Nikolcrjewitsch bedeutend abgekürzt. Die zweite Ursache meiner ver«</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0456]
Westsibirien anzusiedeln und daß diese Bitte erhört worden war; dameine Frau
Ende August ihre Entbindung erwartete, so überredete ich sie, schon den 3.
Juli nach Jrkutsk voraus zu reisen und daselbst die Expedition der erfor¬
derlichen officiellen Papiere auszuwirken, damit wir gleich nach meiner An¬
kunft unsere weite Reise fortsetzen könnten. Den 2. Juli trug ich meinen
Sohn Conrad zu mir ins Gefängniß um von ihm Abschied zu nehmen; das
Kind hatte einen hellblauen Mantel um sich, den Fürst Obolensky ihm mit
großer Geschicklichkeit genäht hatte, und wurde nicht verlegen, als meine Ka¬
meraden es umringten und mit sichtbarem Antheil liebkosten. Meine Frau
nahm einen rührenden Abschied von unseren treuen Gefährten; unsere Damen
fürchteten für ihre Gesundheit und ihren Zustand, dem die Strapazen der be¬
vorstehenden Reise gefährlich werden konnten. Alerandrine Murawjew schickte
ihr einen zusammenzuklappenden Reisesessel, bot ihr tausend Sachen an und
beredete sie, während der Ueberfahrt über den Baikalsee eine Kuh mitzuneh¬
men, damit das Kind zu jeder Stunde frische Milch haben könne. Torson
verfertigte eine Hängematte aus Segeltuch, N. Bestushew Schrauben und
Schnallen, mit denen er das Bettchen an das Verdeck der Kalesche befestigte,
in welcher meine Frau die Ueberfahrt machen sollte. — Den 3. Juli trat
meine Frau die Reise an; ohne Aufenthalt erreichte sie das Ufer des Baikal,
wo sie ein Fischerboot mit Segeln miethete; die Kalesche wurde aufgerollt
und so ging es in Begleitung der Fischer und einiger Reisegefährten in See.
Mitten auf dem Baikal erhob sich ein Sturm, der einige Tage anhielt und
das Fahrzeug auf derselben Stelle hin und her schaukelte. Mein Sohn wurde
krank, die vorräthig mitgenommene Milch sauer, abgekochte Milch wollte er nicht
trinken; anfangs begnügte er sich mit Reiswasser, zuletzt nahm er gar keine
Nahrung zu sich: er schien dem Tode nah. Den fünften Tag legte sich der
Sturm, der Wind wurde günstig und nach einigen Stunden konnten die Schif¬
fer landen. Meine Frau erinnert sich noch heute mit Entzücken des Augen¬
blicks als sie wieder aufs Land kam und ihren kranken Sohn nach fünftägi¬
gen Leiden und Hunger wieder mit frischer Milch erquicken konnte. — Sie
langte den 12. Juli in Jrkutsk an und erwartete mich am folgenden Tage; aber
ich traf erst zwei Wochen später ein. Die Verspätung meiner Ankunft hatte
zwei Ursachen. Der Generalgouvemeur Lawinsky besichtigte damals seine
Gouvernements und hatte vergessen unsern Commandanten rechtzeitig über
meinen Bestimmungsort zu benachrichtigen. Leparsky erhielt dieses Papier
erst am 20. und fertigte mich noch an demselben Tage ab; so mußte ich neun
Tage über den Termin im Gefängniß bleiben. — Bald nach meiner Ab¬
reise wurden die Termine der Gefangenschaft und Strafarbeit auch für meine
nachgebliebenen Kameraden in Veranlassung der Geburt des Großfürsten
Michail Nikolcrjewitsch bedeutend abgekürzt. Die zweite Ursache meiner ver«
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