Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Nachricht, als uns die vorletzten Zeitungen die unsinnigen Ordonnanzen von Der erste Eindruck war peinlich, umsomehr, als er völlig unerwartet ge¬ Nachricht, als uns die vorletzten Zeitungen die unsinnigen Ordonnanzen von Der erste Eindruck war peinlich, umsomehr, als er völlig unerwartet ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0377" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287649"/> <p xml:id="ID_954" prev="#ID_953"> Nachricht, als uns die vorletzten Zeitungen die unsinnigen Ordonnanzen von<lb/> Karl X. mitgetheilt hatten. — Jedem Reisenden ist es angenehm, sich dem<lb/> Ziele der Reise zu nähern; nicht so uns, die wir von einem neuen Gefängniß<lb/> erwartet wurden. Die letzten Werste schlängelte sich der Weg durch einen<lb/> Wald,, der, jemehr wir uns Petrowsk näherten, immer lichter und dünner<lb/> wurde, endlich durch Gebüsch und Morast führte, bis plötzlich hohe Berge<lb/> gegen Norden und Osten zum Vorschein kamen. In einem tiefen Thale<lb/> zeigte sich ein großes Dorf, eine Kirche, ein Fabrikgebäude mit vielen<lb/> Schornsteinen, ein Bach und hinter demselben das rothe Dach des Gefäng¬<lb/> nisses. Näher gekommen sahen wir endlich ein enormes Gebäude auf<lb/> hohem steinernen Fundament in der Form eines Galgens; dasselbe zeigte<lb/> eine Menge von Schornsteinen aus Ziegeln, aber alle Wände waren fenster¬<lb/> los, ein Ausbau ausgenommen, an welchem der Eingang, die Hauptwache<lb/> und die Wachtstube angebracht waren. Als wir durch das Thor gekommen<lb/> waren, erblickten wir an den inneren Mauern Fenster, Treppen und eine hohe<lb/> Umzäunung aus aufrecht stehenden und zugespitzten Balken, die den ganzen<lb/> inneren Raum in acht gesonderte Höfe eintheilte. Jeder Hof hatte seine<lb/> eigene Pforte, jede Abtheilung faßte fünf bis sechs Mann. Jede Treppe<lb/> führte in einen hellen Corridor von vier Ellen Breite, aus welchem Thüren<lb/> in die einzelnen Zellen führten; jede Zelle war sieben Schritt lang und sechs<lb/> Schritt breit. Diese Zellen waren fast ganz dunkel, denn sie erhielten ihr<lb/> Tageslicht nur aus dem Corridor durch ein vergittertes Fensterchen, welches<lb/> über der Zellenthür angebracht war; es war so dunkel, daß man am hellen<lb/> Tage nicht lesen, nicht die Zeiger und Ziffern an der Uhr unterscheiden<lb/> konnte. Am Tage war es erlaubt, die Thüre zu öffnen und bei warmer<lb/> Witterung im Corridor zu arbeiten; aber wie lange dauert der Schein der<lb/> sibirischen Sonne? Schon im September mußten wir im Dunkeln sitzen<lb/> oder den ganzen Tag Licht brennen. Es waren in Allem sechszig Zellen;<lb/> in einigen wurden zwei Gefangene zusammen einquartirt.</p><lb/> <p xml:id="ID_955" next="#ID_956"> Der erste Eindruck war peinlich, umsomehr, als er völlig unerwartet ge¬<lb/> kommen war. Wie konnten wir ahnen, daß man uns, nachdem wir fast vier<lb/> Jahre lang in dem engen aber erträglichen Gefängnisse von Tschita zugebracht<lb/> hatten, ohne Ursache durch Versetzung in ein sehr viel schlechteres Gefängniß<lb/> bestrafen und sogar des Tageslichtes berauben würde? Mir thaten besonders<lb/> diejenigen meiner Kameraden leid, die in diesem Gefängnisse zwölf Jahre zu¬<lb/> bringen sollten.— Zwei Abtheilungen des Gefängnißgebäudes, die erste und<lb/> die zwölfte, waren den Verheirateten angewiesen; die Frauen zauberten nicht<lb/> einen Augenblick, das Gefängniß ihrer Männer zu theilen, was in Tschita<lb/> wegen der Enge und der gemeinschaftlichen Einsperrung verboten gewesen<lb/> koar; hier hatte Jeder seine besondere Zelle. In unserer Abtheilung lebten</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0377]
Nachricht, als uns die vorletzten Zeitungen die unsinnigen Ordonnanzen von
Karl X. mitgetheilt hatten. — Jedem Reisenden ist es angenehm, sich dem
Ziele der Reise zu nähern; nicht so uns, die wir von einem neuen Gefängniß
erwartet wurden. Die letzten Werste schlängelte sich der Weg durch einen
Wald,, der, jemehr wir uns Petrowsk näherten, immer lichter und dünner
wurde, endlich durch Gebüsch und Morast führte, bis plötzlich hohe Berge
gegen Norden und Osten zum Vorschein kamen. In einem tiefen Thale
zeigte sich ein großes Dorf, eine Kirche, ein Fabrikgebäude mit vielen
Schornsteinen, ein Bach und hinter demselben das rothe Dach des Gefäng¬
nisses. Näher gekommen sahen wir endlich ein enormes Gebäude auf
hohem steinernen Fundament in der Form eines Galgens; dasselbe zeigte
eine Menge von Schornsteinen aus Ziegeln, aber alle Wände waren fenster¬
los, ein Ausbau ausgenommen, an welchem der Eingang, die Hauptwache
und die Wachtstube angebracht waren. Als wir durch das Thor gekommen
waren, erblickten wir an den inneren Mauern Fenster, Treppen und eine hohe
Umzäunung aus aufrecht stehenden und zugespitzten Balken, die den ganzen
inneren Raum in acht gesonderte Höfe eintheilte. Jeder Hof hatte seine
eigene Pforte, jede Abtheilung faßte fünf bis sechs Mann. Jede Treppe
führte in einen hellen Corridor von vier Ellen Breite, aus welchem Thüren
in die einzelnen Zellen führten; jede Zelle war sieben Schritt lang und sechs
Schritt breit. Diese Zellen waren fast ganz dunkel, denn sie erhielten ihr
Tageslicht nur aus dem Corridor durch ein vergittertes Fensterchen, welches
über der Zellenthür angebracht war; es war so dunkel, daß man am hellen
Tage nicht lesen, nicht die Zeiger und Ziffern an der Uhr unterscheiden
konnte. Am Tage war es erlaubt, die Thüre zu öffnen und bei warmer
Witterung im Corridor zu arbeiten; aber wie lange dauert der Schein der
sibirischen Sonne? Schon im September mußten wir im Dunkeln sitzen
oder den ganzen Tag Licht brennen. Es waren in Allem sechszig Zellen;
in einigen wurden zwei Gefangene zusammen einquartirt.
Der erste Eindruck war peinlich, umsomehr, als er völlig unerwartet ge¬
kommen war. Wie konnten wir ahnen, daß man uns, nachdem wir fast vier
Jahre lang in dem engen aber erträglichen Gefängnisse von Tschita zugebracht
hatten, ohne Ursache durch Versetzung in ein sehr viel schlechteres Gefängniß
bestrafen und sogar des Tageslichtes berauben würde? Mir thaten besonders
diejenigen meiner Kameraden leid, die in diesem Gefängnisse zwölf Jahre zu¬
bringen sollten.— Zwei Abtheilungen des Gefängnißgebäudes, die erste und
die zwölfte, waren den Verheirateten angewiesen; die Frauen zauberten nicht
einen Augenblick, das Gefängniß ihrer Männer zu theilen, was in Tschita
wegen der Enge und der gemeinschaftlichen Einsperrung verboten gewesen
koar; hier hatte Jeder seine besondere Zelle. In unserer Abtheilung lebten
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