Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Maschinen einführten, wenigstens Dresch. und Saatreinigungsmaschinen? Der
Gefragte antwortete: "Wir haben meist gedörrtes Korn, welches wir bei frucht¬
baren Jahren und niedrigen Preisen ost fünf Jahre lang aufbewahren. Zum
Windigen dient uns eine breite Schaufel, Wie viel kann die Maschine in
einem Tage windigen?" -- "Mehr als sechzig Loos." -- "Meine Schaufel
und meine Hand windigen nicht weniger" entgegnete der Bauer, seine starke
Hand vorzeigend, deren Handgelenk über vier Zoll breit war. Das ganze
Wesen dieser Leute zeugte von Wohlstand und Zufriedenheit: sie haben eine
Communalverfassung, durch welche sie ziemlich unabhängig gestellt sind,
bezahlen ihre Abgaben pünktlich und haben nur mit Kronbeamten zu thun,
mit denen sie umzugehen verstehen.

Am folgenden Tage nächtigten wir in einem Dorfe derselben Colonie
und fanden daselbst das nämliche thätige Leben. In einem dritten Dorfe,
Dessiatnikowo, hielten wir den dritten Rasttag; unser Wirth war ein rüstiger
Greis von 110 Jahren, welcher der Zahl der ersten Verschickten aus der Re¬
gierungszeit Anna's (1733) angehörte. Er war damals 13 Jahre alt ge¬
wesen und erinnerte sich noch deutlich aller Umstände der weiten Reise und
der ersten Einrichtung. Der Alte lebte im Hause seines jüngsten, vierten
Sohnes, der selbst ein Greis von 70 Jahren war. Obgleich der Vater nicht
mehr arbeitete, hatte er die Gewohnheit, stets ein Beil im Gurt zu tragen;
frühmorgens weckte er seine Kinder und Enkel zur Arbeit. Er führte mich
zu seinen anderen drei Söhnen; für Jeden hatte er ein besonderes Haus
mit Hof und Scheuer, und für jedes Haus eine besondere Wassermühle an¬
gelegt. -- "Warum hast du, Großvater, so viele Mühlen gebaut?" fragte
ich den Alten. -- "Sieh doch, was wir für Felder haben" erwiderte er und
zeigte auf die umliegenden Berge, wo jeder Winkel bearbeitet war. Der
Boden erzeugt guten Waizen, der vortheilhaft veräußert werden kann.
Nach dem Reichthum und Wohlstande dieser Bauern zu urtheilen, schien es
mir, als hätte ich arbeitsame Russen in Amerika und nicht in Sibirien vor
mir; in dieser Gegend ist Sibirien um nichts schlechter als Amerika. Frucht¬
bares Land im Ueberfluß. Arbeitsamkeit der Menschen, die sich selbst regieren.

In diesem dritten Dorfe fanden wir die Kalesche meiner Frau, welche
der Überschwemmung wegen zurückgeblieben war. Noch blieben vier Tage¬
marsche bis zu unserem neuen Gefängniß übrig; ich überredete meine Frau
vorauszufahren, um für sich und die Diener eine Wohnung zu miethen
und einige Vorräthe einzukaufen. -- In unserem letzten Nachtlager an¬
gelangt, legte ich das Amt eines Tafel- oder Küchenbesorgers nieder. Hier,
am Vorabende unserer Ankunft in Petrowsk, erhielten wir Briefe und die
wichtige Nachricht von der Julirevolution in Frankreich; das war von guter
Vorbedeutung für unseren neuen Aufenthaltsort und eine desto angenehmere


Maschinen einführten, wenigstens Dresch. und Saatreinigungsmaschinen? Der
Gefragte antwortete: „Wir haben meist gedörrtes Korn, welches wir bei frucht¬
baren Jahren und niedrigen Preisen ost fünf Jahre lang aufbewahren. Zum
Windigen dient uns eine breite Schaufel, Wie viel kann die Maschine in
einem Tage windigen?" — „Mehr als sechzig Loos." — „Meine Schaufel
und meine Hand windigen nicht weniger" entgegnete der Bauer, seine starke
Hand vorzeigend, deren Handgelenk über vier Zoll breit war. Das ganze
Wesen dieser Leute zeugte von Wohlstand und Zufriedenheit: sie haben eine
Communalverfassung, durch welche sie ziemlich unabhängig gestellt sind,
bezahlen ihre Abgaben pünktlich und haben nur mit Kronbeamten zu thun,
mit denen sie umzugehen verstehen.

Am folgenden Tage nächtigten wir in einem Dorfe derselben Colonie
und fanden daselbst das nämliche thätige Leben. In einem dritten Dorfe,
Dessiatnikowo, hielten wir den dritten Rasttag; unser Wirth war ein rüstiger
Greis von 110 Jahren, welcher der Zahl der ersten Verschickten aus der Re¬
gierungszeit Anna's (1733) angehörte. Er war damals 13 Jahre alt ge¬
wesen und erinnerte sich noch deutlich aller Umstände der weiten Reise und
der ersten Einrichtung. Der Alte lebte im Hause seines jüngsten, vierten
Sohnes, der selbst ein Greis von 70 Jahren war. Obgleich der Vater nicht
mehr arbeitete, hatte er die Gewohnheit, stets ein Beil im Gurt zu tragen;
frühmorgens weckte er seine Kinder und Enkel zur Arbeit. Er führte mich
zu seinen anderen drei Söhnen; für Jeden hatte er ein besonderes Haus
mit Hof und Scheuer, und für jedes Haus eine besondere Wassermühle an¬
gelegt. — „Warum hast du, Großvater, so viele Mühlen gebaut?" fragte
ich den Alten. — „Sieh doch, was wir für Felder haben" erwiderte er und
zeigte auf die umliegenden Berge, wo jeder Winkel bearbeitet war. Der
Boden erzeugt guten Waizen, der vortheilhaft veräußert werden kann.
Nach dem Reichthum und Wohlstande dieser Bauern zu urtheilen, schien es
mir, als hätte ich arbeitsame Russen in Amerika und nicht in Sibirien vor
mir; in dieser Gegend ist Sibirien um nichts schlechter als Amerika. Frucht¬
bares Land im Ueberfluß. Arbeitsamkeit der Menschen, die sich selbst regieren.

In diesem dritten Dorfe fanden wir die Kalesche meiner Frau, welche
der Überschwemmung wegen zurückgeblieben war. Noch blieben vier Tage¬
marsche bis zu unserem neuen Gefängniß übrig; ich überredete meine Frau
vorauszufahren, um für sich und die Diener eine Wohnung zu miethen
und einige Vorräthe einzukaufen. — In unserem letzten Nachtlager an¬
gelangt, legte ich das Amt eines Tafel- oder Küchenbesorgers nieder. Hier,
am Vorabende unserer Ankunft in Petrowsk, erhielten wir Briefe und die
wichtige Nachricht von der Julirevolution in Frankreich; das war von guter
Vorbedeutung für unseren neuen Aufenthaltsort und eine desto angenehmere


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0376" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287648"/>
            <p xml:id="ID_951" prev="#ID_950"> Maschinen einführten, wenigstens Dresch. und Saatreinigungsmaschinen? Der<lb/>
Gefragte antwortete: &#x201E;Wir haben meist gedörrtes Korn, welches wir bei frucht¬<lb/>
baren Jahren und niedrigen Preisen ost fünf Jahre lang aufbewahren. Zum<lb/>
Windigen dient uns eine breite Schaufel, Wie viel kann die Maschine in<lb/>
einem Tage windigen?" &#x2014; &#x201E;Mehr als sechzig Loos." &#x2014; &#x201E;Meine Schaufel<lb/>
und meine Hand windigen nicht weniger" entgegnete der Bauer, seine starke<lb/>
Hand vorzeigend, deren Handgelenk über vier Zoll breit war. Das ganze<lb/>
Wesen dieser Leute zeugte von Wohlstand und Zufriedenheit: sie haben eine<lb/>
Communalverfassung, durch welche sie ziemlich unabhängig gestellt sind,<lb/>
bezahlen ihre Abgaben pünktlich und haben nur mit Kronbeamten zu thun,<lb/>
mit denen sie umzugehen verstehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_952"> Am folgenden Tage nächtigten wir in einem Dorfe derselben Colonie<lb/>
und fanden daselbst das nämliche thätige Leben. In einem dritten Dorfe,<lb/>
Dessiatnikowo, hielten wir den dritten Rasttag; unser Wirth war ein rüstiger<lb/>
Greis von 110 Jahren, welcher der Zahl der ersten Verschickten aus der Re¬<lb/>
gierungszeit Anna's (1733) angehörte. Er war damals 13 Jahre alt ge¬<lb/>
wesen und erinnerte sich noch deutlich aller Umstände der weiten Reise und<lb/>
der ersten Einrichtung. Der Alte lebte im Hause seines jüngsten, vierten<lb/>
Sohnes, der selbst ein Greis von 70 Jahren war. Obgleich der Vater nicht<lb/>
mehr arbeitete, hatte er die Gewohnheit, stets ein Beil im Gurt zu tragen;<lb/>
frühmorgens weckte er seine Kinder und Enkel zur Arbeit. Er führte mich<lb/>
zu seinen anderen drei Söhnen; für Jeden hatte er ein besonderes Haus<lb/>
mit Hof und Scheuer, und für jedes Haus eine besondere Wassermühle an¬<lb/>
gelegt. &#x2014; &#x201E;Warum hast du, Großvater, so viele Mühlen gebaut?" fragte<lb/>
ich den Alten. &#x2014; &#x201E;Sieh doch, was wir für Felder haben" erwiderte er und<lb/>
zeigte auf die umliegenden Berge, wo jeder Winkel bearbeitet war. Der<lb/>
Boden erzeugt guten Waizen, der vortheilhaft veräußert werden kann.<lb/>
Nach dem Reichthum und Wohlstande dieser Bauern zu urtheilen, schien es<lb/>
mir, als hätte ich arbeitsame Russen in Amerika und nicht in Sibirien vor<lb/>
mir; in dieser Gegend ist Sibirien um nichts schlechter als Amerika. Frucht¬<lb/>
bares Land im Ueberfluß. Arbeitsamkeit der Menschen, die sich selbst regieren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_953" next="#ID_954"> In diesem dritten Dorfe fanden wir die Kalesche meiner Frau, welche<lb/>
der Überschwemmung wegen zurückgeblieben war. Noch blieben vier Tage¬<lb/>
marsche bis zu unserem neuen Gefängniß übrig; ich überredete meine Frau<lb/>
vorauszufahren, um für sich und die Diener eine Wohnung zu miethen<lb/>
und einige Vorräthe einzukaufen. &#x2014; In unserem letzten Nachtlager an¬<lb/>
gelangt, legte ich das Amt eines Tafel- oder Küchenbesorgers nieder. Hier,<lb/>
am Vorabende unserer Ankunft in Petrowsk, erhielten wir Briefe und die<lb/>
wichtige Nachricht von der Julirevolution in Frankreich; das war von guter<lb/>
Vorbedeutung für unseren neuen Aufenthaltsort und eine desto angenehmere</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0376] Maschinen einführten, wenigstens Dresch. und Saatreinigungsmaschinen? Der Gefragte antwortete: „Wir haben meist gedörrtes Korn, welches wir bei frucht¬ baren Jahren und niedrigen Preisen ost fünf Jahre lang aufbewahren. Zum Windigen dient uns eine breite Schaufel, Wie viel kann die Maschine in einem Tage windigen?" — „Mehr als sechzig Loos." — „Meine Schaufel und meine Hand windigen nicht weniger" entgegnete der Bauer, seine starke Hand vorzeigend, deren Handgelenk über vier Zoll breit war. Das ganze Wesen dieser Leute zeugte von Wohlstand und Zufriedenheit: sie haben eine Communalverfassung, durch welche sie ziemlich unabhängig gestellt sind, bezahlen ihre Abgaben pünktlich und haben nur mit Kronbeamten zu thun, mit denen sie umzugehen verstehen. Am folgenden Tage nächtigten wir in einem Dorfe derselben Colonie und fanden daselbst das nämliche thätige Leben. In einem dritten Dorfe, Dessiatnikowo, hielten wir den dritten Rasttag; unser Wirth war ein rüstiger Greis von 110 Jahren, welcher der Zahl der ersten Verschickten aus der Re¬ gierungszeit Anna's (1733) angehörte. Er war damals 13 Jahre alt ge¬ wesen und erinnerte sich noch deutlich aller Umstände der weiten Reise und der ersten Einrichtung. Der Alte lebte im Hause seines jüngsten, vierten Sohnes, der selbst ein Greis von 70 Jahren war. Obgleich der Vater nicht mehr arbeitete, hatte er die Gewohnheit, stets ein Beil im Gurt zu tragen; frühmorgens weckte er seine Kinder und Enkel zur Arbeit. Er führte mich zu seinen anderen drei Söhnen; für Jeden hatte er ein besonderes Haus mit Hof und Scheuer, und für jedes Haus eine besondere Wassermühle an¬ gelegt. — „Warum hast du, Großvater, so viele Mühlen gebaut?" fragte ich den Alten. — „Sieh doch, was wir für Felder haben" erwiderte er und zeigte auf die umliegenden Berge, wo jeder Winkel bearbeitet war. Der Boden erzeugt guten Waizen, der vortheilhaft veräußert werden kann. Nach dem Reichthum und Wohlstande dieser Bauern zu urtheilen, schien es mir, als hätte ich arbeitsame Russen in Amerika und nicht in Sibirien vor mir; in dieser Gegend ist Sibirien um nichts schlechter als Amerika. Frucht¬ bares Land im Ueberfluß. Arbeitsamkeit der Menschen, die sich selbst regieren. In diesem dritten Dorfe fanden wir die Kalesche meiner Frau, welche der Überschwemmung wegen zurückgeblieben war. Noch blieben vier Tage¬ marsche bis zu unserem neuen Gefängniß übrig; ich überredete meine Frau vorauszufahren, um für sich und die Diener eine Wohnung zu miethen und einige Vorräthe einzukaufen. — In unserem letzten Nachtlager an¬ gelangt, legte ich das Amt eines Tafel- oder Küchenbesorgers nieder. Hier, am Vorabende unserer Ankunft in Petrowsk, erhielten wir Briefe und die wichtige Nachricht von der Julirevolution in Frankreich; das war von guter Vorbedeutung für unseren neuen Aufenthaltsort und eine desto angenehmere

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/376
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/376>, abgerufen am 06.02.2025.