Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.dungsgrad pflegt da in demselben Verhältniß zu sinken oder zu steigen, in wel¬ Jedermann in Königgrätz zählt die "tüchtigen Czechen", die nicht Philo¬ Daß man die czechische Jugend lehrt das heilige Rußland anzubeten, 34*
dungsgrad pflegt da in demselben Verhältniß zu sinken oder zu steigen, in wel¬ Jedermann in Königgrätz zählt die „tüchtigen Czechen", die nicht Philo¬ Daß man die czechische Jugend lehrt das heilige Rußland anzubeten, 34*
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dungsgrad pflegt da in demselben Verhältniß zu sinken oder zu steigen, in wel¬
chem das eine oder das andere. Idiom die Oberhand gewinnt. Scharf zu
denken und tief zu fühlen vermag auch der Begabteste nur in seiner Mutter¬
sprache; zwei Muttersprachen aber hat kein Mensch auf Erden.
Jedermann in Königgrätz zählt die „tüchtigen Czechen", die nicht Philo¬
logen von Fach sind, an den Fingern her. Tüchtige Czechen nennt man
Leute, denen in einer czechischen Zeitschrift oder Zeitung beinahe jedes Wort
verständlich ist und die einen rein czechischen Brief zu schreiben verstehen.
Manchen Einwohner, der mehr czechisch als deutsch redet, fragte ich vergebens
nach der Bedeutung gewisser nationaler Losungsworte. Was heißt denn
eigentlich Sokol (Falke)? — I nu jo. Sokol is weiter nix wie Verein. —
Danke schön; und was versteht Ihr unter „na 2äg,r" (gut Heil)? — Wenn
ich sag va, 2Üa,r, i nu, da mein ich: auf Wiedersehn, oder guten Appetit,
oder so was. — Neugierig, den Text zu einer oft gehörten Nationalmelodie
kennen zu lernen, kaufte ich mir ein Liederbüchlein für 10 Kreuzer und bat
einen Bekannten, der im Ruf eines ziemlich tüchtigen Czechen steht, mir das
„Käs üomov mu^?" (Wo ist meine Heimath? mit anderen Worten: Was
ist des Czechen Vaterland?) zu erklären. Aber schon vor dem Ende der ersten
Strophe stießen wir auf eine Klippe und in der zweiten auf eine Sandbank.
— Haben Sie kein Wörterbuch? fragte ich. — Ach was. Wörterbuchl rief er
beleidigt. Ich werde doch meine Sprache kennen, und der Sinn ist mir klar
genug. Nur kommt im Druck manchmal eine altböhmische oder krobatische
Phrase vor; und das schadet weiter nichts. — In solchen Nöthen hilft doch
nur das Lexikon oder ein gelehrter Thebaner, ein Professor oder ein durch
Fleiß und Talent ausgezeichneter Octavianer (Primaner). Dem letzteren
wieder kann es geschehen, daß er beim Uebersetzen um den entsprechenden
deutschen Ausdruck verlegen wird. Oefters redete ich zwölf- oder vierzehn¬
jährige Gymnasialschüler auf deutsch an, und es war nichts weniger als
Böswilligkeit von ihnen, daß sie mir die Antwort schuldig blieben. Aeltere
gewerbtreibende Czechen pflegen zehnmal besseres Deutsch zu reden als der
Octavianer, der an der Schwelle der Universität steht. Der Aufschwung
czechischer Cultur scheint eben vorzugsweise in dem abnehmenden Sinn für
deutsche Bildung zu bestehen. Die jüngere Generation fühlt eine patriotische
Befriedigung darin, daß sie die teutonischen Autoren ungefähr so genau wie
die todten Lateiner kennen lernt; wenn die Sprache Schiller's und Goethe's
ihr so fremd klingt wie dem gebildeten Russen oder Franzosen, wandelt sie
ein Bewußtsein der Vornehmheit an und sie glaubt einer selbständigen und
großen Nation anzugehören.
Daß man die czechische Jugend lehrt das heilige Rußland anzubeten,
ist kein Geheimniß. Da jedoch der russische Name selbst in Czechien nicht
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