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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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gingen, und begegnete hin und wieder einem verspäteten Gaste; es war
eben die Butterwoche*). -- Beim Schlagbaum wurde angehalten, der Feld¬
jäger trat in die Wachtstube, die Postillone lösten unterdessen die Zungen der
Postglocken, die Schildwache hob den Schlagbaum, muthig und flink spreng¬
ten die Pferde davon. Die Kälte ohne Wind erfrischte uns, die Postillone
bemühten sich, recht schnell zu fahren und riefen ihren Pferden beständig:
"Butterwoche, Ihr Falken!" zu. In einer Stunde waren wir auf der näch¬
sten Station. -- In wenigen Minuten waren andere Schlitten angespannt
da man auf der Poststation die für die Abfertigungen bestimmten Tage im
Voraus wußte; nach wenigen Minuten saßen wir in anderen Schlitten, gut¬
müthige Postillone umwickelten unsere Füße sorgfältig mit trockenem Heu,
damit wir nicht frieren sollten, und weiter ging es in unaufhaltsam rascher
Fahrt. Auf den beiden ersten Stationen fanden Einige von uns Verwandte
und Freunde vor, die sich eingefunden hatten, um noch einmal von den Ver¬
bannten Abschied zu nehmen; der Geistliche Myslowsky hatte die Freundlich¬
keit gehabt, sie über den Tag unserer Abfertigung zu benachrichtigen. Dann
eilten wir weiter.

Mit steigender Unruhe bemerkte ich, daß wir uns der Festung Schlüs¬
selburg näherten; ich befürchtete, daß man auch uns in ihre Mauern ein¬
schließen würde, da ich wußte, daß Einige unserer Kameraden daselbst
nach der Vollziehung der Sentenz längere Zeit eingesperrt gewesen waren.
In einer Festung eingeschlossen zu sitzen, erschien mir aber schrecklicher als
jedes andere Loos. Wir kamen an den Kreuzweg, wo es links zur Festung,
rechts zum Dorf und weiter zur Station geht -- mein Herz schlug immer
stärker: unsere Schlitten bogen rechts ab zum Dorfe, wir hatten die Festung
nicht zu fürchten. Rasch waren die Pferde gewechselt, wir jagten weiter;
nur undeutlich konnte ich die Mauern der Festung sehen, an welcher russische
Soldaten einst eine berühmte Probe ihrer Tapferkeit abgelegt hatten. Peter, der
Schlüsselburg den Schweden entreißen wollte, ließ die Festung stürmen, aber
während des Sturmes zeigte sichs, daß die Sturmleitern zu kurz seien. Pe¬
ter, die Unmöglichkeit eines Erfolgs einsehend, befahl, den Sturmlauf einzu¬
stellen. -- "Sagt dem Kaiser" entgegnete der Anführer, Fürst Galizyn, als
er den Befehl erhielt, "daß ich jetzt nicht ihm angehöre, sondern Gott allein;
vorwärts Kinder!" -- Galizyn stellte sich auf die Schultern eines Kriegers,
der auf der höchsten Stufe der Leiter stand, und war der Erste auf dem Walle,
die Andern folgten ihm nach und die Festung wurde genommen.

Noch während der Butterwoche durchreisten wir die Städte Tichwin,



Bekanntlich heißt die Carnevalswoche vor Beginn der großen Fasten russisch "Butter-
Woche" (Moßliniza).

gingen, und begegnete hin und wieder einem verspäteten Gaste; es war
eben die Butterwoche*). — Beim Schlagbaum wurde angehalten, der Feld¬
jäger trat in die Wachtstube, die Postillone lösten unterdessen die Zungen der
Postglocken, die Schildwache hob den Schlagbaum, muthig und flink spreng¬
ten die Pferde davon. Die Kälte ohne Wind erfrischte uns, die Postillone
bemühten sich, recht schnell zu fahren und riefen ihren Pferden beständig:
»Butterwoche, Ihr Falken!" zu. In einer Stunde waren wir auf der näch¬
sten Station. — In wenigen Minuten waren andere Schlitten angespannt
da man auf der Poststation die für die Abfertigungen bestimmten Tage im
Voraus wußte; nach wenigen Minuten saßen wir in anderen Schlitten, gut¬
müthige Postillone umwickelten unsere Füße sorgfältig mit trockenem Heu,
damit wir nicht frieren sollten, und weiter ging es in unaufhaltsam rascher
Fahrt. Auf den beiden ersten Stationen fanden Einige von uns Verwandte
und Freunde vor, die sich eingefunden hatten, um noch einmal von den Ver¬
bannten Abschied zu nehmen; der Geistliche Myslowsky hatte die Freundlich¬
keit gehabt, sie über den Tag unserer Abfertigung zu benachrichtigen. Dann
eilten wir weiter.

Mit steigender Unruhe bemerkte ich, daß wir uns der Festung Schlüs¬
selburg näherten; ich befürchtete, daß man auch uns in ihre Mauern ein¬
schließen würde, da ich wußte, daß Einige unserer Kameraden daselbst
nach der Vollziehung der Sentenz längere Zeit eingesperrt gewesen waren.
In einer Festung eingeschlossen zu sitzen, erschien mir aber schrecklicher als
jedes andere Loos. Wir kamen an den Kreuzweg, wo es links zur Festung,
rechts zum Dorf und weiter zur Station geht — mein Herz schlug immer
stärker: unsere Schlitten bogen rechts ab zum Dorfe, wir hatten die Festung
nicht zu fürchten. Rasch waren die Pferde gewechselt, wir jagten weiter;
nur undeutlich konnte ich die Mauern der Festung sehen, an welcher russische
Soldaten einst eine berühmte Probe ihrer Tapferkeit abgelegt hatten. Peter, der
Schlüsselburg den Schweden entreißen wollte, ließ die Festung stürmen, aber
während des Sturmes zeigte sichs, daß die Sturmleitern zu kurz seien. Pe¬
ter, die Unmöglichkeit eines Erfolgs einsehend, befahl, den Sturmlauf einzu¬
stellen. — „Sagt dem Kaiser" entgegnete der Anführer, Fürst Galizyn, als
er den Befehl erhielt, „daß ich jetzt nicht ihm angehöre, sondern Gott allein;
vorwärts Kinder!" — Galizyn stellte sich auf die Schultern eines Kriegers,
der auf der höchsten Stufe der Leiter stand, und war der Erste auf dem Walle,
die Andern folgten ihm nach und die Festung wurde genommen.

Noch während der Butterwoche durchreisten wir die Städte Tichwin,



Bekanntlich heißt die Carnevalswoche vor Beginn der großen Fasten russisch „Butter-
Woche" (Moßliniza).
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[0277] gingen, und begegnete hin und wieder einem verspäteten Gaste; es war eben die Butterwoche*). — Beim Schlagbaum wurde angehalten, der Feld¬ jäger trat in die Wachtstube, die Postillone lösten unterdessen die Zungen der Postglocken, die Schildwache hob den Schlagbaum, muthig und flink spreng¬ ten die Pferde davon. Die Kälte ohne Wind erfrischte uns, die Postillone bemühten sich, recht schnell zu fahren und riefen ihren Pferden beständig: »Butterwoche, Ihr Falken!" zu. In einer Stunde waren wir auf der näch¬ sten Station. — In wenigen Minuten waren andere Schlitten angespannt da man auf der Poststation die für die Abfertigungen bestimmten Tage im Voraus wußte; nach wenigen Minuten saßen wir in anderen Schlitten, gut¬ müthige Postillone umwickelten unsere Füße sorgfältig mit trockenem Heu, damit wir nicht frieren sollten, und weiter ging es in unaufhaltsam rascher Fahrt. Auf den beiden ersten Stationen fanden Einige von uns Verwandte und Freunde vor, die sich eingefunden hatten, um noch einmal von den Ver¬ bannten Abschied zu nehmen; der Geistliche Myslowsky hatte die Freundlich¬ keit gehabt, sie über den Tag unserer Abfertigung zu benachrichtigen. Dann eilten wir weiter. Mit steigender Unruhe bemerkte ich, daß wir uns der Festung Schlüs¬ selburg näherten; ich befürchtete, daß man auch uns in ihre Mauern ein¬ schließen würde, da ich wußte, daß Einige unserer Kameraden daselbst nach der Vollziehung der Sentenz längere Zeit eingesperrt gewesen waren. In einer Festung eingeschlossen zu sitzen, erschien mir aber schrecklicher als jedes andere Loos. Wir kamen an den Kreuzweg, wo es links zur Festung, rechts zum Dorf und weiter zur Station geht — mein Herz schlug immer stärker: unsere Schlitten bogen rechts ab zum Dorfe, wir hatten die Festung nicht zu fürchten. Rasch waren die Pferde gewechselt, wir jagten weiter; nur undeutlich konnte ich die Mauern der Festung sehen, an welcher russische Soldaten einst eine berühmte Probe ihrer Tapferkeit abgelegt hatten. Peter, der Schlüsselburg den Schweden entreißen wollte, ließ die Festung stürmen, aber während des Sturmes zeigte sichs, daß die Sturmleitern zu kurz seien. Pe¬ ter, die Unmöglichkeit eines Erfolgs einsehend, befahl, den Sturmlauf einzu¬ stellen. — „Sagt dem Kaiser" entgegnete der Anführer, Fürst Galizyn, als er den Befehl erhielt, „daß ich jetzt nicht ihm angehöre, sondern Gott allein; vorwärts Kinder!" — Galizyn stellte sich auf die Schultern eines Kriegers, der auf der höchsten Stufe der Leiter stand, und war der Erste auf dem Walle, die Andern folgten ihm nach und die Festung wurde genommen. Noch während der Butterwoche durchreisten wir die Städte Tichwin, Bekanntlich heißt die Carnevalswoche vor Beginn der großen Fasten russisch „Butter- Woche" (Moßliniza).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/277>, abgerufen am 06.02.2025.