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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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jährigen Wohnens verhieß er nicht länger festzuhalten und meinte dann, ob
das Haus die Clausel, welche das Wahlrecht gewissen Steuerzahlern gebe,
aufrechthalten wolle und ob die Grafschaftsqualification noch weiter herab¬
zusetzen sei, bleibe am besten der Discussion im Comite vorbehalten. Mit
einem Wort: er hielt nur daran fest, daß das Wahlrecht in Städten künftig
von der persönlichen Zahlung der Gemeindesteuern abhängig sein sollte und
gab sonst seine Vorschläge preis, indem er das Haus in der einschmeichelndsten
Weise versicherte, daß er sich ganz dessen Urtheil unterwerfen und von dessen
unfehlbaren Jnstinct leiten lassen werde.

Unter dem Eindruck der allgemeinsten Ueberraschung über diese Wen¬
dung, welche den ganzen bisherigen Kampf veränderte, wurde ohne Ab¬
stimmung, ja fast ohne Debatte die zweite Lesung einer Bill angenommen,
von der Niemand wußte, woraus sie noch bestand.

Es war begreiflich, daß Gladstone über diese bis dahin unerhörte par¬
lamentarische Taktik erbittert war, aber er ließ sich zu einem Gegenzug ver¬
leiten, welcher zu einer directen Niederlage für ihn ward. Ganz unerwartet
rief er seine Anhänger am 5. April zusammen und legte ihnen eine Instruc-
tion vor, wonach das Comiti des ganzen Hauses befugt sein solle 1) das
System der Gemeindesteuern (Is>v ok ratinZ) zu ändern und 2) eine be¬
stimmte Grenzlinie festzuhalten, unterhalb welcher Niemand zum Wahlrecht
zugelassen werden sollte. In diesem zweiten Satze lag das Hauptgewicht, da
er dem Disraeü'schen Princip, daß Jeder berechtigt sein solle, der persönlich
zahle, entgegentrat. Einige Mitglieder der Versammlung äußerten Bedenken
gegen dies Verfahren, welches im Lande als ein Parteimanöver werde an¬
gesehen werden, aber Gladstone wies sie ziemlich hochfahrend zur Ruhe: wenn
er Führer der Opposition bleiben solle, so müsse er seinen eigenen Stand¬
punkt wählen dürfen. Obwohl hierauf in der Parteiversammlung die In¬
struktion angenommen wurde, war der Widerstand gegen dieselbe nicht be¬
seitigt, sondern ward noch stärker, als Disraeli Tags darauf bei Empfang
einer Deputation erklärte, die Regierung sei entschlossen das Parlament auf¬
zulösen, wenn jene Instruktion durchgehe. Gar manche Liberale mußten sich
sagen, daß ihre Sitze gefährdet sein könnten, wenn Disraeli an das Land
appellire auf ein Votum hin, welches weniger liberal erschien als sein eigener
Vorschlag. Als das Ministerium Derby 1859 seine Reformvill vorbrachte,
verhinderte die Opposition durch ein Mißtrauensvotum, daß die Bill ins
Comite' kam; es konnte nicht rathsam sein ein derartiges Verfahren, das Dis¬
raeli oft genug denuncirt, jetzt zu wiederholen, wo Alles sich nach Erledigung
der Reformfrage sehnte. Dazu kam eine andere Rücksicht: eine Anzahl vor¬
geschrittener Liberalen hatten aus Disraeli's Fügsamkeit den Schluß gezogen
(und wie die Folge zeigte mit vollem Recht), daß er noch weiter nachgeben


jährigen Wohnens verhieß er nicht länger festzuhalten und meinte dann, ob
das Haus die Clausel, welche das Wahlrecht gewissen Steuerzahlern gebe,
aufrechthalten wolle und ob die Grafschaftsqualification noch weiter herab¬
zusetzen sei, bleibe am besten der Discussion im Comite vorbehalten. Mit
einem Wort: er hielt nur daran fest, daß das Wahlrecht in Städten künftig
von der persönlichen Zahlung der Gemeindesteuern abhängig sein sollte und
gab sonst seine Vorschläge preis, indem er das Haus in der einschmeichelndsten
Weise versicherte, daß er sich ganz dessen Urtheil unterwerfen und von dessen
unfehlbaren Jnstinct leiten lassen werde.

Unter dem Eindruck der allgemeinsten Ueberraschung über diese Wen¬
dung, welche den ganzen bisherigen Kampf veränderte, wurde ohne Ab¬
stimmung, ja fast ohne Debatte die zweite Lesung einer Bill angenommen,
von der Niemand wußte, woraus sie noch bestand.

Es war begreiflich, daß Gladstone über diese bis dahin unerhörte par¬
lamentarische Taktik erbittert war, aber er ließ sich zu einem Gegenzug ver¬
leiten, welcher zu einer directen Niederlage für ihn ward. Ganz unerwartet
rief er seine Anhänger am 5. April zusammen und legte ihnen eine Instruc-
tion vor, wonach das Comiti des ganzen Hauses befugt sein solle 1) das
System der Gemeindesteuern (Is>v ok ratinZ) zu ändern und 2) eine be¬
stimmte Grenzlinie festzuhalten, unterhalb welcher Niemand zum Wahlrecht
zugelassen werden sollte. In diesem zweiten Satze lag das Hauptgewicht, da
er dem Disraeü'schen Princip, daß Jeder berechtigt sein solle, der persönlich
zahle, entgegentrat. Einige Mitglieder der Versammlung äußerten Bedenken
gegen dies Verfahren, welches im Lande als ein Parteimanöver werde an¬
gesehen werden, aber Gladstone wies sie ziemlich hochfahrend zur Ruhe: wenn
er Führer der Opposition bleiben solle, so müsse er seinen eigenen Stand¬
punkt wählen dürfen. Obwohl hierauf in der Parteiversammlung die In¬
struktion angenommen wurde, war der Widerstand gegen dieselbe nicht be¬
seitigt, sondern ward noch stärker, als Disraeli Tags darauf bei Empfang
einer Deputation erklärte, die Regierung sei entschlossen das Parlament auf¬
zulösen, wenn jene Instruktion durchgehe. Gar manche Liberale mußten sich
sagen, daß ihre Sitze gefährdet sein könnten, wenn Disraeli an das Land
appellire auf ein Votum hin, welches weniger liberal erschien als sein eigener
Vorschlag. Als das Ministerium Derby 1859 seine Reformvill vorbrachte,
verhinderte die Opposition durch ein Mißtrauensvotum, daß die Bill ins
Comite' kam; es konnte nicht rathsam sein ein derartiges Verfahren, das Dis¬
raeli oft genug denuncirt, jetzt zu wiederholen, wo Alles sich nach Erledigung
der Reformfrage sehnte. Dazu kam eine andere Rücksicht: eine Anzahl vor¬
geschrittener Liberalen hatten aus Disraeli's Fügsamkeit den Schluß gezogen
(und wie die Folge zeigte mit vollem Recht), daß er noch weiter nachgeben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/228>, abgerufen am 05.02.2025.