Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nach kurzem Fluge wieder gelähmt sind. Von allen Seiten wird bestätigt,
daß viele auß'eröstreichische Deutsche (und unter diesen zählen dieselben
nationalen mit, denen noch vor einem halben Jahre vorgeworfen wurde,
sie sähen der Neugestaltung des Kaiserstaates mißgünstig zu) einen Glauben
an die Heilkraft des liberalen wiener Systems zeigten, nach dem man sich in
Oestreich selbst vergeblich umsehe.

Deutschland, dessen politische Ferien in diesem Jahre länger dauern, als
die seiner meisten Nachbarn, ist in den letzten Wochen wesentlich auf die
Rolle des Zuschauers auswärtiger Ereignisse beschränkt geblieben. Aus dem
Gebiet des inneren Staatslebens ist wenig zu melden. In Hannover hat
Graf Eulenburg den Triumph gefeiert, seine Vorschläge für die provincielle
Selbstverwaltung nicht nur genehmigt, sondern durch die Führer der natio¬
nalen Partei auf dem Provinziallandtage unterstützt zu sehen; in Nassau.
Schleswig, Kiel, Rendsburg und Kassel -sind die Provinziallandtage vor
Kurzem zusammengetreten. Die souveränen Fürsten des deutschen Südens
und was ihnen anhängt erfreuen sich eines harmlosen Stilllebens, das nach
den Kämpfen und Stürmen des vorigen Halbjahrs als Wiederkehr der alten
guten Zeit begrüßt und gelegentlich mit kleinen Handstreichen gegen an-
rüchige Freunde der nationalen Sache gefeiert wird. In Stuttgart ist der
Hofprediger Grüneisen wegen Mangel an orthodox-schwäbischer Gesinnung
trotz langjähriger treuer Dienste in der Stille beseitigt worden; die bairische
Regierung, welche unsern Optimisten für den Saul unter den süddeutschen
Propheten gilt und die mit Preußen noch jüngst einen Vertrag über Gegen¬
seitigkeit in Verfolgung von Preßvergehen abgeschlossen hat, um respective Ma¬
jestätsbeleidigungen unmöglich zu machen, Baiern hat dem Dichter Emmanuel
Geibel -- gleichfalls in der Stille -- die seit vierzehn Jahren genossene
Pension entzogen, weil er den Einzug König Wilhelm's in die Mauern von
Lübeck durch ein patriotisches Gedicht feierte; nur in Baden wird das im
Jahre 1866 für die nationale Sache wiedereroberte Terrain muthig und
konsequent vertheidigt. -- Während die übrigen deutschen Parteien noch in
der früheren Regungslosigkeit beharren, hat die socialistische während des
letzten Monats eine außerordentliche Rührigkeit entfaltet. Ungeachtet der
Zahllosen Spaltungen, welche das socialistische Lager zerreißen -- es lassen
sich nicht weniger als fünf verschiedene Fractionen nachweisen, welche alle
für die echten Erben Lassalle's gelten wollen -- machen die Bestrebungen
sür Anschluß der deutschen Arbeiter an die verwandten Agitationen in Bel¬
gien. England und der Schweiz erhebliche Fortschritte. Unter solchen Um¬
ständen verdienen die neuen giftigen Ausfälle der Kreuzzeitung gegen Schulze-
Delitzsch besonders harte Verurtheilung. Wenn die Partei, welche hinter
diesem Organ steht, die alte Freund- und Gevatterschaft mit den Jüngern


Grenzboten IV. 1368. 25

nach kurzem Fluge wieder gelähmt sind. Von allen Seiten wird bestätigt,
daß viele auß'eröstreichische Deutsche (und unter diesen zählen dieselben
nationalen mit, denen noch vor einem halben Jahre vorgeworfen wurde,
sie sähen der Neugestaltung des Kaiserstaates mißgünstig zu) einen Glauben
an die Heilkraft des liberalen wiener Systems zeigten, nach dem man sich in
Oestreich selbst vergeblich umsehe.

Deutschland, dessen politische Ferien in diesem Jahre länger dauern, als
die seiner meisten Nachbarn, ist in den letzten Wochen wesentlich auf die
Rolle des Zuschauers auswärtiger Ereignisse beschränkt geblieben. Aus dem
Gebiet des inneren Staatslebens ist wenig zu melden. In Hannover hat
Graf Eulenburg den Triumph gefeiert, seine Vorschläge für die provincielle
Selbstverwaltung nicht nur genehmigt, sondern durch die Führer der natio¬
nalen Partei auf dem Provinziallandtage unterstützt zu sehen; in Nassau.
Schleswig, Kiel, Rendsburg und Kassel -sind die Provinziallandtage vor
Kurzem zusammengetreten. Die souveränen Fürsten des deutschen Südens
und was ihnen anhängt erfreuen sich eines harmlosen Stilllebens, das nach
den Kämpfen und Stürmen des vorigen Halbjahrs als Wiederkehr der alten
guten Zeit begrüßt und gelegentlich mit kleinen Handstreichen gegen an-
rüchige Freunde der nationalen Sache gefeiert wird. In Stuttgart ist der
Hofprediger Grüneisen wegen Mangel an orthodox-schwäbischer Gesinnung
trotz langjähriger treuer Dienste in der Stille beseitigt worden; die bairische
Regierung, welche unsern Optimisten für den Saul unter den süddeutschen
Propheten gilt und die mit Preußen noch jüngst einen Vertrag über Gegen¬
seitigkeit in Verfolgung von Preßvergehen abgeschlossen hat, um respective Ma¬
jestätsbeleidigungen unmöglich zu machen, Baiern hat dem Dichter Emmanuel
Geibel — gleichfalls in der Stille — die seit vierzehn Jahren genossene
Pension entzogen, weil er den Einzug König Wilhelm's in die Mauern von
Lübeck durch ein patriotisches Gedicht feierte; nur in Baden wird das im
Jahre 1866 für die nationale Sache wiedereroberte Terrain muthig und
konsequent vertheidigt. — Während die übrigen deutschen Parteien noch in
der früheren Regungslosigkeit beharren, hat die socialistische während des
letzten Monats eine außerordentliche Rührigkeit entfaltet. Ungeachtet der
Zahllosen Spaltungen, welche das socialistische Lager zerreißen — es lassen
sich nicht weniger als fünf verschiedene Fractionen nachweisen, welche alle
für die echten Erben Lassalle's gelten wollen — machen die Bestrebungen
sür Anschluß der deutschen Arbeiter an die verwandten Agitationen in Bel¬
gien. England und der Schweiz erhebliche Fortschritte. Unter solchen Um¬
ständen verdienen die neuen giftigen Ausfälle der Kreuzzeitung gegen Schulze-
Delitzsch besonders harte Verurtheilung. Wenn die Partei, welche hinter
diesem Organ steht, die alte Freund- und Gevatterschaft mit den Jüngern


Grenzboten IV. 1368. 25
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287483"/>
          <p xml:id="ID_547" prev="#ID_546"> nach kurzem Fluge wieder gelähmt sind. Von allen Seiten wird bestätigt,<lb/>
daß viele auß'eröstreichische Deutsche (und unter diesen zählen dieselben<lb/>
nationalen mit, denen noch vor einem halben Jahre vorgeworfen wurde,<lb/>
sie sähen der Neugestaltung des Kaiserstaates mißgünstig zu) einen Glauben<lb/>
an die Heilkraft des liberalen wiener Systems zeigten, nach dem man sich in<lb/>
Oestreich selbst vergeblich umsehe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_548" next="#ID_549"> Deutschland, dessen politische Ferien in diesem Jahre länger dauern, als<lb/>
die seiner meisten Nachbarn, ist in den letzten Wochen wesentlich auf die<lb/>
Rolle des Zuschauers auswärtiger Ereignisse beschränkt geblieben. Aus dem<lb/>
Gebiet des inneren Staatslebens ist wenig zu melden. In Hannover hat<lb/>
Graf Eulenburg den Triumph gefeiert, seine Vorschläge für die provincielle<lb/>
Selbstverwaltung nicht nur genehmigt, sondern durch die Führer der natio¬<lb/>
nalen Partei auf dem Provinziallandtage unterstützt zu sehen; in Nassau.<lb/>
Schleswig, Kiel, Rendsburg und Kassel -sind die Provinziallandtage vor<lb/>
Kurzem zusammengetreten. Die souveränen Fürsten des deutschen Südens<lb/>
und was ihnen anhängt erfreuen sich eines harmlosen Stilllebens, das nach<lb/>
den Kämpfen und Stürmen des vorigen Halbjahrs als Wiederkehr der alten<lb/>
guten Zeit begrüßt und gelegentlich mit kleinen Handstreichen gegen an-<lb/>
rüchige Freunde der nationalen Sache gefeiert wird. In Stuttgart ist der<lb/>
Hofprediger Grüneisen wegen Mangel an orthodox-schwäbischer Gesinnung<lb/>
trotz langjähriger treuer Dienste in der Stille beseitigt worden; die bairische<lb/>
Regierung, welche unsern Optimisten für den Saul unter den süddeutschen<lb/>
Propheten gilt und die mit Preußen noch jüngst einen Vertrag über Gegen¬<lb/>
seitigkeit in Verfolgung von Preßvergehen abgeschlossen hat, um respective Ma¬<lb/>
jestätsbeleidigungen unmöglich zu machen, Baiern hat dem Dichter Emmanuel<lb/>
Geibel &#x2014; gleichfalls in der Stille &#x2014; die seit vierzehn Jahren genossene<lb/>
Pension entzogen, weil er den Einzug König Wilhelm's in die Mauern von<lb/>
Lübeck durch ein patriotisches Gedicht feierte; nur in Baden wird das im<lb/>
Jahre 1866 für die nationale Sache wiedereroberte Terrain muthig und<lb/>
konsequent vertheidigt. &#x2014; Während die übrigen deutschen Parteien noch in<lb/>
der früheren Regungslosigkeit beharren, hat die socialistische während des<lb/>
letzten Monats eine außerordentliche Rührigkeit entfaltet. Ungeachtet der<lb/>
Zahllosen Spaltungen, welche das socialistische Lager zerreißen &#x2014; es lassen<lb/>
sich nicht weniger als fünf verschiedene Fractionen nachweisen, welche alle<lb/>
für die echten Erben Lassalle's gelten wollen &#x2014; machen die Bestrebungen<lb/>
sür Anschluß der deutschen Arbeiter an die verwandten Agitationen in Bel¬<lb/>
gien. England und der Schweiz erhebliche Fortschritte. Unter solchen Um¬<lb/>
ständen verdienen die neuen giftigen Ausfälle der Kreuzzeitung gegen Schulze-<lb/>
Delitzsch besonders harte Verurtheilung. Wenn die Partei, welche hinter<lb/>
diesem Organ steht, die alte Freund- und Gevatterschaft mit den Jüngern</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1368. 25</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0211] nach kurzem Fluge wieder gelähmt sind. Von allen Seiten wird bestätigt, daß viele auß'eröstreichische Deutsche (und unter diesen zählen dieselben nationalen mit, denen noch vor einem halben Jahre vorgeworfen wurde, sie sähen der Neugestaltung des Kaiserstaates mißgünstig zu) einen Glauben an die Heilkraft des liberalen wiener Systems zeigten, nach dem man sich in Oestreich selbst vergeblich umsehe. Deutschland, dessen politische Ferien in diesem Jahre länger dauern, als die seiner meisten Nachbarn, ist in den letzten Wochen wesentlich auf die Rolle des Zuschauers auswärtiger Ereignisse beschränkt geblieben. Aus dem Gebiet des inneren Staatslebens ist wenig zu melden. In Hannover hat Graf Eulenburg den Triumph gefeiert, seine Vorschläge für die provincielle Selbstverwaltung nicht nur genehmigt, sondern durch die Führer der natio¬ nalen Partei auf dem Provinziallandtage unterstützt zu sehen; in Nassau. Schleswig, Kiel, Rendsburg und Kassel -sind die Provinziallandtage vor Kurzem zusammengetreten. Die souveränen Fürsten des deutschen Südens und was ihnen anhängt erfreuen sich eines harmlosen Stilllebens, das nach den Kämpfen und Stürmen des vorigen Halbjahrs als Wiederkehr der alten guten Zeit begrüßt und gelegentlich mit kleinen Handstreichen gegen an- rüchige Freunde der nationalen Sache gefeiert wird. In Stuttgart ist der Hofprediger Grüneisen wegen Mangel an orthodox-schwäbischer Gesinnung trotz langjähriger treuer Dienste in der Stille beseitigt worden; die bairische Regierung, welche unsern Optimisten für den Saul unter den süddeutschen Propheten gilt und die mit Preußen noch jüngst einen Vertrag über Gegen¬ seitigkeit in Verfolgung von Preßvergehen abgeschlossen hat, um respective Ma¬ jestätsbeleidigungen unmöglich zu machen, Baiern hat dem Dichter Emmanuel Geibel — gleichfalls in der Stille — die seit vierzehn Jahren genossene Pension entzogen, weil er den Einzug König Wilhelm's in die Mauern von Lübeck durch ein patriotisches Gedicht feierte; nur in Baden wird das im Jahre 1866 für die nationale Sache wiedereroberte Terrain muthig und konsequent vertheidigt. — Während die übrigen deutschen Parteien noch in der früheren Regungslosigkeit beharren, hat die socialistische während des letzten Monats eine außerordentliche Rührigkeit entfaltet. Ungeachtet der Zahllosen Spaltungen, welche das socialistische Lager zerreißen — es lassen sich nicht weniger als fünf verschiedene Fractionen nachweisen, welche alle für die echten Erben Lassalle's gelten wollen — machen die Bestrebungen sür Anschluß der deutschen Arbeiter an die verwandten Agitationen in Bel¬ gien. England und der Schweiz erhebliche Fortschritte. Unter solchen Um¬ ständen verdienen die neuen giftigen Ausfälle der Kreuzzeitung gegen Schulze- Delitzsch besonders harte Verurtheilung. Wenn die Partei, welche hinter diesem Organ steht, die alte Freund- und Gevatterschaft mit den Jüngern Grenzboten IV. 1368. 25

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/211
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/211>, abgerufen am 05.02.2025.