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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Monat weiter hinaus und der Druck, den die Unkosten der reorganisirten
Armee auf den Staatssäckel üben, ist so empfindlich, daß der Kaiser selbst,
den Geldverlegenheiten sonst nicht zu tangiren pflegten, auf Vorschläge zu
einer allgemeinen Entwaffnung denkt oder doch eine Zeit lang gedacht hat.
Die neue europäische Karte, welche die die friedliche Haltung Frankreichs als
durch die günstigen Resultate seiner Machtentwickelung seit 1815 bedingt
nachweisen soll und neuerdings von den pariser Officiösen gefeiert wird,
zeigt, daß es mit dem unerschöpflichen Vorrath an Mitteln zur Beschäftigung
der nationalen Selbstgefälligkeit stark zu Ende geht und die Unruhe, welche
der auf diese Karte bezügliche Artikel der France an der pariser Börse er¬
regt hat, läßt dieses Beschwichtigungsmittel als nicht besonders glücklich ge¬
wählt erscheinen.

Dem Glauben an die Möglichkeit einer Wandelung der inneren Politik
Frankreichs in liberalem Sinne sind die den Frieden erzwingenden Ereignisse
des letzten Monats nicht zu Gute gekommen. Und doch wiirde nur eine
solche Wandelung der Erhaltung des Friedens solide und dauernde Bürg¬
schaften bieten. Wohl ist davon die Rede, den bei den Friedens- und Frei¬
heitsfreunden populärsten der kaiserlichen Räthe, den Staatsminister Rouher
mit der Leitung der inneren Angelegenheiten zu betrauen, aber alle Welt weiß
daß das nur den Sinn haben würde, die Leitung der nächsten Wahlen für
den gesetzgebenden Körper in eine geschicktere Hand zu legen, als die des
Herrn Pinard, und daß nach Ansicht der am Hof maßgebenden Kreise die
äußerste Grenze der dem französischen Volke zuträglichen Freiheiten längst
überschritten ist. Seit mit dem Grafen Walewskt einer der letzten älteren Ver¬
trauten des Kaisers zu Grabe gegangen ist und die Verwalter der verschiede¬
nen Ministerien mehr die Rolle von Commis als von selbstthätigen und
selbstdenkenden Staatsmännern spielen, prävaliren am kaiserlichen Hof die
kleinlichen und dem eigentlichen Staatsinteresse völlig fremden Einflüsse der
Umgebung der Kaiserin und die liberale Schattirung der imperialistischen
Partei hat kaum noch einen Mann aufzuweisen, dessen persönliche Be¬
ziehungen zum Staatsoberhaupt in Betracht kämen. Für Glücksritterschaft
und Intrigue ist die auswärtige Politik aber ein ungleich dankbareres Feld,
als die Beschäftigung mit den Fragen des inneren Staatslebens, zu welcher
es schöpferischer Ideen und solider Kenntnisse bedarf, und so erscheint völlig
begreiflich, daß die Hofgesellschaft ihr Möglichstes thut, um die diplomatischen
Fragen immer wieder in den Vordergrund zu ziehen und mit diesen den
täglichen Bedarf an Emotionen und spielenden Beschäftigungen zu bestreiten.

Wie groß das Maß der Verlegenheiten ist, welche auf der auswärtigen
Politik Frankreichs lasten, hat sich neulich in einer Rundschau, welche der
Noviteur an soir über die gegenwärtige Lage Europas hielt, auf das schlagendste


Monat weiter hinaus und der Druck, den die Unkosten der reorganisirten
Armee auf den Staatssäckel üben, ist so empfindlich, daß der Kaiser selbst,
den Geldverlegenheiten sonst nicht zu tangiren pflegten, auf Vorschläge zu
einer allgemeinen Entwaffnung denkt oder doch eine Zeit lang gedacht hat.
Die neue europäische Karte, welche die die friedliche Haltung Frankreichs als
durch die günstigen Resultate seiner Machtentwickelung seit 1815 bedingt
nachweisen soll und neuerdings von den pariser Officiösen gefeiert wird,
zeigt, daß es mit dem unerschöpflichen Vorrath an Mitteln zur Beschäftigung
der nationalen Selbstgefälligkeit stark zu Ende geht und die Unruhe, welche
der auf diese Karte bezügliche Artikel der France an der pariser Börse er¬
regt hat, läßt dieses Beschwichtigungsmittel als nicht besonders glücklich ge¬
wählt erscheinen.

Dem Glauben an die Möglichkeit einer Wandelung der inneren Politik
Frankreichs in liberalem Sinne sind die den Frieden erzwingenden Ereignisse
des letzten Monats nicht zu Gute gekommen. Und doch wiirde nur eine
solche Wandelung der Erhaltung des Friedens solide und dauernde Bürg¬
schaften bieten. Wohl ist davon die Rede, den bei den Friedens- und Frei¬
heitsfreunden populärsten der kaiserlichen Räthe, den Staatsminister Rouher
mit der Leitung der inneren Angelegenheiten zu betrauen, aber alle Welt weiß
daß das nur den Sinn haben würde, die Leitung der nächsten Wahlen für
den gesetzgebenden Körper in eine geschicktere Hand zu legen, als die des
Herrn Pinard, und daß nach Ansicht der am Hof maßgebenden Kreise die
äußerste Grenze der dem französischen Volke zuträglichen Freiheiten längst
überschritten ist. Seit mit dem Grafen Walewskt einer der letzten älteren Ver¬
trauten des Kaisers zu Grabe gegangen ist und die Verwalter der verschiede¬
nen Ministerien mehr die Rolle von Commis als von selbstthätigen und
selbstdenkenden Staatsmännern spielen, prävaliren am kaiserlichen Hof die
kleinlichen und dem eigentlichen Staatsinteresse völlig fremden Einflüsse der
Umgebung der Kaiserin und die liberale Schattirung der imperialistischen
Partei hat kaum noch einen Mann aufzuweisen, dessen persönliche Be¬
ziehungen zum Staatsoberhaupt in Betracht kämen. Für Glücksritterschaft
und Intrigue ist die auswärtige Politik aber ein ungleich dankbareres Feld,
als die Beschäftigung mit den Fragen des inneren Staatslebens, zu welcher
es schöpferischer Ideen und solider Kenntnisse bedarf, und so erscheint völlig
begreiflich, daß die Hofgesellschaft ihr Möglichstes thut, um die diplomatischen
Fragen immer wieder in den Vordergrund zu ziehen und mit diesen den
täglichen Bedarf an Emotionen und spielenden Beschäftigungen zu bestreiten.

Wie groß das Maß der Verlegenheiten ist, welche auf der auswärtigen
Politik Frankreichs lasten, hat sich neulich in einer Rundschau, welche der
Noviteur an soir über die gegenwärtige Lage Europas hielt, auf das schlagendste


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[0208] Monat weiter hinaus und der Druck, den die Unkosten der reorganisirten Armee auf den Staatssäckel üben, ist so empfindlich, daß der Kaiser selbst, den Geldverlegenheiten sonst nicht zu tangiren pflegten, auf Vorschläge zu einer allgemeinen Entwaffnung denkt oder doch eine Zeit lang gedacht hat. Die neue europäische Karte, welche die die friedliche Haltung Frankreichs als durch die günstigen Resultate seiner Machtentwickelung seit 1815 bedingt nachweisen soll und neuerdings von den pariser Officiösen gefeiert wird, zeigt, daß es mit dem unerschöpflichen Vorrath an Mitteln zur Beschäftigung der nationalen Selbstgefälligkeit stark zu Ende geht und die Unruhe, welche der auf diese Karte bezügliche Artikel der France an der pariser Börse er¬ regt hat, läßt dieses Beschwichtigungsmittel als nicht besonders glücklich ge¬ wählt erscheinen. Dem Glauben an die Möglichkeit einer Wandelung der inneren Politik Frankreichs in liberalem Sinne sind die den Frieden erzwingenden Ereignisse des letzten Monats nicht zu Gute gekommen. Und doch wiirde nur eine solche Wandelung der Erhaltung des Friedens solide und dauernde Bürg¬ schaften bieten. Wohl ist davon die Rede, den bei den Friedens- und Frei¬ heitsfreunden populärsten der kaiserlichen Räthe, den Staatsminister Rouher mit der Leitung der inneren Angelegenheiten zu betrauen, aber alle Welt weiß daß das nur den Sinn haben würde, die Leitung der nächsten Wahlen für den gesetzgebenden Körper in eine geschicktere Hand zu legen, als die des Herrn Pinard, und daß nach Ansicht der am Hof maßgebenden Kreise die äußerste Grenze der dem französischen Volke zuträglichen Freiheiten längst überschritten ist. Seit mit dem Grafen Walewskt einer der letzten älteren Ver¬ trauten des Kaisers zu Grabe gegangen ist und die Verwalter der verschiede¬ nen Ministerien mehr die Rolle von Commis als von selbstthätigen und selbstdenkenden Staatsmännern spielen, prävaliren am kaiserlichen Hof die kleinlichen und dem eigentlichen Staatsinteresse völlig fremden Einflüsse der Umgebung der Kaiserin und die liberale Schattirung der imperialistischen Partei hat kaum noch einen Mann aufzuweisen, dessen persönliche Be¬ ziehungen zum Staatsoberhaupt in Betracht kämen. Für Glücksritterschaft und Intrigue ist die auswärtige Politik aber ein ungleich dankbareres Feld, als die Beschäftigung mit den Fragen des inneren Staatslebens, zu welcher es schöpferischer Ideen und solider Kenntnisse bedarf, und so erscheint völlig begreiflich, daß die Hofgesellschaft ihr Möglichstes thut, um die diplomatischen Fragen immer wieder in den Vordergrund zu ziehen und mit diesen den täglichen Bedarf an Emotionen und spielenden Beschäftigungen zu bestreiten. Wie groß das Maß der Verlegenheiten ist, welche auf der auswärtigen Politik Frankreichs lasten, hat sich neulich in einer Rundschau, welche der Noviteur an soir über die gegenwärtige Lage Europas hielt, auf das schlagendste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/208>, abgerufen am 05.02.2025.