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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Platze erschienen sei; ich habe ihn selbst auf diesem Platze gesehen. Er konnte
freilich nicht beständig auf dem Platz stehen bleiben, weil er eben an der Spitze
der ganzen Verschwörung stand, die Casernen, die Wachen befuhr und die Per¬
sonen aufsuchte, die nicht auf dem Sammelplätze erschienen waren. Er konnte
das Commando nicht übernehmen, da er nicht mehr Militär war und nur
kurze Zeit gedient hatte; er stellte sich in die Reihen der Soldaten. -- In der
Casematte, in der letzten Nacht erhielt er die Erlaubniß seiner Frau zu
schreiben; bisweilen unterbrach er sein Schreiben, betete, und fuhr dann fort,
seinen letzten Willen mitzutheilen;"r suchte die Frau zu trösten und'gab ihr
Anweisung zur Erziehung seiner einzigen Tochter. Bei Sonnenaufgang trat
der Platzmajor zu ihm herein mit der Anzeige, daß er sich in einer halben
Stunde aufmachen müsse. Dem Platzmajor folgten zwei Wächter mit Fesseln.
Ryl6jew setzte sich, um seinen Brief zu beendigen, und bat, daß man ihm
unterdessen die Ketten an die Füße legen solle. Sokolow. der Wächter,
war betroffen von der Gefaßtheit und Ruhe des zum To!>e Verurtheilten.
Nach Beendigung des Briefes aß NrMjew ein Stückchen Brod, trank einige
Schlucke Wasser, segnete die Gefängnißwächter. bekreuzigte sich und sagte
dann ruhig: "ich bin bereit!"

In der Nummer 12 der Käsematte befand sich am Vorabend der Hinrich¬
tung Sergius Murawjew-Apostol. Seine Denkungsart, sein reiner fester
Glaube hatten den Geistlichen Myslowsky schon längst vor der verhängniß-
vollen Stunde mit solcher Erfurcht erfüllt, daß dieser äußerte: "Wenn ich in
die Käsematte des Sergei Jwcmowitsch trete, so bemächtigt sich meiner jedes¬
mal ein so andächtiges Gefühl, als ob ich vor dem Gottesdienst in das
Allerheiligste einträte." -- Seit frühester Jugend war sein Lteblingsgedanke
das Wohl des Vaterlandes gewesen; dazu hatte er sich vorbereitet, eifrig in der
Polytechnischen Schule zu Paris studirt, und unablässig darauf gedacht, Ru߬
land eine bessere Zukunft zu bereiten. Das Ziel war noch so weit, daß er
bisweilen die Geduld verlor. In einer solchen Stimmung drückte er einst
sein Gefühl in folgenden an die Mauer des kiewschen Klosters geschriebenen
Versen aus:


"loi^'om'g rüvour se solitairo
xmWLi'al sur cotes terro
Laus qus xersoimo in'ait voran;
Oo n'ost M'an dont as Mg, earrivro
(Zug xar un grauet treue as lumisriz
I^'on vorra es Hu'on a xoräu. --"

Den durch ihn erhobenen Aufstand des Tschernigow'schen Armee-Re-
gimentes, in welchem er als Oberstlieutenant ein Bataillon commandirre,
beschreibe ich weiter an gehöriger Stelle. -- Sogar in den letzten Augen-


Platze erschienen sei; ich habe ihn selbst auf diesem Platze gesehen. Er konnte
freilich nicht beständig auf dem Platz stehen bleiben, weil er eben an der Spitze
der ganzen Verschwörung stand, die Casernen, die Wachen befuhr und die Per¬
sonen aufsuchte, die nicht auf dem Sammelplätze erschienen waren. Er konnte
das Commando nicht übernehmen, da er nicht mehr Militär war und nur
kurze Zeit gedient hatte; er stellte sich in die Reihen der Soldaten. — In der
Casematte, in der letzten Nacht erhielt er die Erlaubniß seiner Frau zu
schreiben; bisweilen unterbrach er sein Schreiben, betete, und fuhr dann fort,
seinen letzten Willen mitzutheilen;«r suchte die Frau zu trösten und'gab ihr
Anweisung zur Erziehung seiner einzigen Tochter. Bei Sonnenaufgang trat
der Platzmajor zu ihm herein mit der Anzeige, daß er sich in einer halben
Stunde aufmachen müsse. Dem Platzmajor folgten zwei Wächter mit Fesseln.
Ryl6jew setzte sich, um seinen Brief zu beendigen, und bat, daß man ihm
unterdessen die Ketten an die Füße legen solle. Sokolow. der Wächter,
war betroffen von der Gefaßtheit und Ruhe des zum To!>e Verurtheilten.
Nach Beendigung des Briefes aß NrMjew ein Stückchen Brod, trank einige
Schlucke Wasser, segnete die Gefängnißwächter. bekreuzigte sich und sagte
dann ruhig: „ich bin bereit!"

In der Nummer 12 der Käsematte befand sich am Vorabend der Hinrich¬
tung Sergius Murawjew-Apostol. Seine Denkungsart, sein reiner fester
Glaube hatten den Geistlichen Myslowsky schon längst vor der verhängniß-
vollen Stunde mit solcher Erfurcht erfüllt, daß dieser äußerte: „Wenn ich in
die Käsematte des Sergei Jwcmowitsch trete, so bemächtigt sich meiner jedes¬
mal ein so andächtiges Gefühl, als ob ich vor dem Gottesdienst in das
Allerheiligste einträte." — Seit frühester Jugend war sein Lteblingsgedanke
das Wohl des Vaterlandes gewesen; dazu hatte er sich vorbereitet, eifrig in der
Polytechnischen Schule zu Paris studirt, und unablässig darauf gedacht, Ru߬
land eine bessere Zukunft zu bereiten. Das Ziel war noch so weit, daß er
bisweilen die Geduld verlor. In einer solchen Stimmung drückte er einst
sein Gefühl in folgenden an die Mauer des kiewschen Klosters geschriebenen
Versen aus:


„loi^'om'g rüvour se solitairo
xmWLi'al sur cotes terro
Laus qus xersoimo in'ait voran;
Oo n'ost M'an dont as Mg, earrivro
(Zug xar un grauet treue as lumisriz
I^'on vorra es Hu'on a xoräu. —"

Den durch ihn erhobenen Aufstand des Tschernigow'schen Armee-Re-
gimentes, in welchem er als Oberstlieutenant ein Bataillon commandirre,
beschreibe ich weiter an gehöriger Stelle. — Sogar in den letzten Augen-


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[0201] Platze erschienen sei; ich habe ihn selbst auf diesem Platze gesehen. Er konnte freilich nicht beständig auf dem Platz stehen bleiben, weil er eben an der Spitze der ganzen Verschwörung stand, die Casernen, die Wachen befuhr und die Per¬ sonen aufsuchte, die nicht auf dem Sammelplätze erschienen waren. Er konnte das Commando nicht übernehmen, da er nicht mehr Militär war und nur kurze Zeit gedient hatte; er stellte sich in die Reihen der Soldaten. — In der Casematte, in der letzten Nacht erhielt er die Erlaubniß seiner Frau zu schreiben; bisweilen unterbrach er sein Schreiben, betete, und fuhr dann fort, seinen letzten Willen mitzutheilen;«r suchte die Frau zu trösten und'gab ihr Anweisung zur Erziehung seiner einzigen Tochter. Bei Sonnenaufgang trat der Platzmajor zu ihm herein mit der Anzeige, daß er sich in einer halben Stunde aufmachen müsse. Dem Platzmajor folgten zwei Wächter mit Fesseln. Ryl6jew setzte sich, um seinen Brief zu beendigen, und bat, daß man ihm unterdessen die Ketten an die Füße legen solle. Sokolow. der Wächter, war betroffen von der Gefaßtheit und Ruhe des zum To!>e Verurtheilten. Nach Beendigung des Briefes aß NrMjew ein Stückchen Brod, trank einige Schlucke Wasser, segnete die Gefängnißwächter. bekreuzigte sich und sagte dann ruhig: „ich bin bereit!" In der Nummer 12 der Käsematte befand sich am Vorabend der Hinrich¬ tung Sergius Murawjew-Apostol. Seine Denkungsart, sein reiner fester Glaube hatten den Geistlichen Myslowsky schon längst vor der verhängniß- vollen Stunde mit solcher Erfurcht erfüllt, daß dieser äußerte: „Wenn ich in die Käsematte des Sergei Jwcmowitsch trete, so bemächtigt sich meiner jedes¬ mal ein so andächtiges Gefühl, als ob ich vor dem Gottesdienst in das Allerheiligste einträte." — Seit frühester Jugend war sein Lteblingsgedanke das Wohl des Vaterlandes gewesen; dazu hatte er sich vorbereitet, eifrig in der Polytechnischen Schule zu Paris studirt, und unablässig darauf gedacht, Ru߬ land eine bessere Zukunft zu bereiten. Das Ziel war noch so weit, daß er bisweilen die Geduld verlor. In einer solchen Stimmung drückte er einst sein Gefühl in folgenden an die Mauer des kiewschen Klosters geschriebenen Versen aus: „loi^'om'g rüvour se solitairo xmWLi'al sur cotes terro Laus qus xersoimo in'ait voran; Oo n'ost M'an dont as Mg, earrivro (Zug xar un grauet treue as lumisriz I^'on vorra es Hu'on a xoräu. —" Den durch ihn erhobenen Aufstand des Tschernigow'schen Armee-Re- gimentes, in welchem er als Oberstlieutenant ein Bataillon commandirre, beschreibe ich weiter an gehöriger Stelle. — Sogar in den letzten Augen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/201>, abgerufen am 11.02.2025.