Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.blicken seines Lebens hatte er keine Zeit an sich selbst zu denken: ihm gegen¬ Bestushew-Rjumin war erst 22 Jahre alt, er hatte anfangs im Seme- Während man uns auf das Festungsglacis geleitet hatte, waren die blicken seines Lebens hatte er keine Zeit an sich selbst zu denken: ihm gegen¬ Bestushew-Rjumin war erst 22 Jahre alt, er hatte anfangs im Seme- Während man uns auf das Festungsglacis geleitet hatte, waren die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287474"/> <p xml:id="ID_528" prev="#ID_527"> blicken seines Lebens hatte er keine Zeit an sich selbst zu denken: ihm gegen¬<lb/> über in der Nummer 16 saß sein junger Freund Michail Bestushew-Rju-<lb/> min, diesen suchte er zu trösten und ermuthigen. Der Feuerwerker Sokolow<lb/> und die Wächter Schibajew und Trosimow hinderten die zum Tode Verur-<lb/> theilten nicht, sich laut zu unterhalten, sie achteten die letzten Augenblicke der<lb/> Todescandidaten. — Ich habe stets lebhaft bedauert, daß diese schlichten guten<lb/> Menschen nicht verstanden haben, die letzte Unterhaltung der beiden Freunde<lb/> wiederzugeben; sie wußten nnr, daß dieselben über die Unsterblichkeit der<lb/> Seele geredet hätten. »</p><lb/> <p xml:id="ID_529"> Bestushew-Rjumin war erst 22 Jahre alt, er hatte anfangs im Seme-<lb/> now'schen Garderegimente als Junker gedient; als dieses cassirt wurde, trat<lb/> er in das Poltawa'sche Infanterieregiment ein, wo er Offizier wurde; seiner<lb/> Gewandtheit und Sprachkenntnisse wegen wurde er zu Aufträgen benutzt,<lb/> die er mehreren Polen nach Kiew, Podolien, Volhynien und Warschau ver¬<lb/> kleidet und unter falschem Namen brachte. — Er war so jung, daß er sich<lb/> nur schwer von dem Leben, das er kaum begonnen, trennen konnte. Wie ein<lb/> Vogel im Käfig warf er sich hin und her und suchte sich zu befreien, als man<lb/> ihm die Fesseln anlegte. Vor seinem Austritte aus der Käsematte nahm er von<lb/> seiner Brust das Bild des Gekreuzigten (das jeder Russe trägt), um es<lb/> seinem Gefängnißwächter Trosimow zum Andenken zu schenken. Ich habe<lb/> dieses Bild gesehen und wollte es kaufen, aber der alte Soldat gab es nicht<lb/> von sich: er hoffte die Reliquie nach seiner Verabschiedung der Schwester<lb/> Bestushew's bringen zu können. — Michail Kachowsky befand sich in einer<lb/> anderen Abtheilung der Kronwerk'schen Kurtine und nicht unter Aufsicht<lb/> meines Wächters Sokolow, daher habe ich zu meinem Bedauern keine Aus¬<lb/> kunft über seine letzten Lebensstunden erhalten können. Er hatte in der<lb/> Garde gedient und dann seinen Abschied genommen. —</p><lb/> <p xml:id="ID_530" next="#ID_531"> Während man uns auf das Festungsglacis geleitet hatte, waren die<lb/> fünf zum Tode Verurtheilten in Fesseln und Sterbehemden in die Festungs¬<lb/> kirche geführt worden, wo sie ihre eigene Todtenmesse anhören mußten. Aus<lb/> der Kirche ging der Zug zum Kronwerk'schen Walle; unterwegs tröstete Mura-<lb/> wjew-Apostol seinen Freund Bestushew-Rjumin, dann wandte er sich zu dem<lb/> Priester Myslovsky und sprach sein Bedauern darüber aus, daß er genöthigt<lb/> sei, die Verurtheilten zu begleiten, wie Räuber zum Richtsplatze; darauf ant¬<lb/> wortete der Geistliche mit den Worten, die der Erlöser am Kreuze dem mit¬<lb/> gekreuzigten Räuber gesagt hatte. — Sich dem Galgen nähernd, umarmten<lb/> sich die Verurtheilten unter einander: dann wurden sie in einer Reihe auf die<lb/> Bank gestellt. Als aber die Schlingen umgewunden, die Bank umgestoßen war,<lb/> blieben nur Pestel und Kachowsky hängen, Nyle'jew, Murawjew-Apostol und<lb/> Bestushew - Rjumin aber fielen auf die umgestoßene Bank und beschädigten sich.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0202]
blicken seines Lebens hatte er keine Zeit an sich selbst zu denken: ihm gegen¬
über in der Nummer 16 saß sein junger Freund Michail Bestushew-Rju-
min, diesen suchte er zu trösten und ermuthigen. Der Feuerwerker Sokolow
und die Wächter Schibajew und Trosimow hinderten die zum Tode Verur-
theilten nicht, sich laut zu unterhalten, sie achteten die letzten Augenblicke der
Todescandidaten. — Ich habe stets lebhaft bedauert, daß diese schlichten guten
Menschen nicht verstanden haben, die letzte Unterhaltung der beiden Freunde
wiederzugeben; sie wußten nnr, daß dieselben über die Unsterblichkeit der
Seele geredet hätten. »
Bestushew-Rjumin war erst 22 Jahre alt, er hatte anfangs im Seme-
now'schen Garderegimente als Junker gedient; als dieses cassirt wurde, trat
er in das Poltawa'sche Infanterieregiment ein, wo er Offizier wurde; seiner
Gewandtheit und Sprachkenntnisse wegen wurde er zu Aufträgen benutzt,
die er mehreren Polen nach Kiew, Podolien, Volhynien und Warschau ver¬
kleidet und unter falschem Namen brachte. — Er war so jung, daß er sich
nur schwer von dem Leben, das er kaum begonnen, trennen konnte. Wie ein
Vogel im Käfig warf er sich hin und her und suchte sich zu befreien, als man
ihm die Fesseln anlegte. Vor seinem Austritte aus der Käsematte nahm er von
seiner Brust das Bild des Gekreuzigten (das jeder Russe trägt), um es
seinem Gefängnißwächter Trosimow zum Andenken zu schenken. Ich habe
dieses Bild gesehen und wollte es kaufen, aber der alte Soldat gab es nicht
von sich: er hoffte die Reliquie nach seiner Verabschiedung der Schwester
Bestushew's bringen zu können. — Michail Kachowsky befand sich in einer
anderen Abtheilung der Kronwerk'schen Kurtine und nicht unter Aufsicht
meines Wächters Sokolow, daher habe ich zu meinem Bedauern keine Aus¬
kunft über seine letzten Lebensstunden erhalten können. Er hatte in der
Garde gedient und dann seinen Abschied genommen. —
Während man uns auf das Festungsglacis geleitet hatte, waren die
fünf zum Tode Verurtheilten in Fesseln und Sterbehemden in die Festungs¬
kirche geführt worden, wo sie ihre eigene Todtenmesse anhören mußten. Aus
der Kirche ging der Zug zum Kronwerk'schen Walle; unterwegs tröstete Mura-
wjew-Apostol seinen Freund Bestushew-Rjumin, dann wandte er sich zu dem
Priester Myslovsky und sprach sein Bedauern darüber aus, daß er genöthigt
sei, die Verurtheilten zu begleiten, wie Räuber zum Richtsplatze; darauf ant¬
wortete der Geistliche mit den Worten, die der Erlöser am Kreuze dem mit¬
gekreuzigten Räuber gesagt hatte. — Sich dem Galgen nähernd, umarmten
sich die Verurtheilten unter einander: dann wurden sie in einer Reihe auf die
Bank gestellt. Als aber die Schlingen umgewunden, die Bank umgestoßen war,
blieben nur Pestel und Kachowsky hängen, Nyle'jew, Murawjew-Apostol und
Bestushew - Rjumin aber fielen auf die umgestoßene Bank und beschädigten sich.
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