Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Wir traten ein und stellten uns in eine Linie auf. Alle Mitglieder Der Eindruck, den wir von dieser Scene hatten, war der. daß wir uns Wir traten ein und stellten uns in eine Linie auf. Alle Mitglieder Der Eindruck, den wir von dieser Scene hatten, war der. daß wir uns <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287468"/> <p xml:id="ID_514"> Wir traten ein und stellten uns in eine Linie auf. Alle Mitglieder<lb/> des Obercriminalgerichts saßen vor uns an langen Tischen längs der Wände.<lb/> Gerade vor uns saß der Metropolit mit einigen Bischöfen; rechts Generale,<lb/> links Senatoren, Alle in voller Uniform, mit Bändern und Orden geschmückt.<lb/> Ich übersah diese Abtheilungen und bemerkte in der Zahl der Generäle den<lb/> tapferen Bistram, meinen verehrten Chef, der seine Thränen nur mühsam<lb/> zurückhielt: einige Minuten vorher hatte er seinen liebsten Adjutanten, den<lb/> Fürsten E. P. Obolensky, verurtheilen sehen müssen. Einige der Richter sahen<lb/> theilnehmend, die meisten finster aus; mehrere von den Senatoren zeigten<lb/> eine unschickliche und impertinente Neugierde; um uns zu betrachten ge¬<lb/> brauchten sie nicht allein Lorgnetten, sondern große Operngucker. In der<lb/> Mitte stand der Oberseeretär des Senats, Shurawlew, und verlas die Sen¬<lb/> tenzen mit lauter vernehmlicher Stimme. Das Gericht hatte unsere (die<lb/> fünfte) Kategorie am 10. Juli zu zehnjähriger Zwangsarbeit und auf diese<lb/> folgende „ewige" Ansiedlung in Sibirien verurtheilt. Der Kaiser hatte dieses<lb/> Urtheil am 11. Juli für meine Kameraden Nepin und Küchelbecker aus acht<lb/> Jahre gemildert, für Bodisko in Betracht seiner Jugend die Zwangsarbeit<lb/> in Festungsarbeit verwandelt; Glebow und ich erwarteten, daß man unserer<lb/> unter denen erwähnen würde, deren Loos gemildert worden; statt dessen<lb/> schwieg Shurawlew und der Commandant winkte, uns in die Käsematte<lb/> zurückzuführen. — Die Ursache dieser Ausnahme, welche von 121 Verur-<lb/> theilten nur drei traf, nämlich N. A Bestushew, M. N. Glebow und mich,<lb/> suche ich, soweit sie mich betrifft, in einer augenblicklichen Reizbarkeit oder<lb/> einem vorübergehenden Unwillen des Kaisers, der es als besonderen Un¬<lb/> dank angesehen haben mochte, daß ich die mir früher von ihm erwiesene Auf¬<lb/> merksamkeit und das mir bezeigte Wohlwollen mit Parteinahme für seine<lb/> Gegner vergolten hatte. — Die ganze Ceremonie der Urtheilspublication an<lb/> die Angeklagten hat fünf Stunden lang gedauert und verlief in der tiefsten<lb/> Stille. Nur M. S. Lunin, ein Verurtheilter der dritten Kategorie, sagte,<lb/> als man ihm die Sentenz vorgelesen und der Secretär auf die Worte „ewige<lb/> Ansiedlung" besonderen Nachdruck gelegt hatte, mit lauter Stimme: „Eine<lb/> schöne Ewigkeit, ich bin schon über fünfzig Jahre alt." — Er starb zu<lb/> Nertschinsk im Jahre 1847, diese „Ewigkeit" hat mithin für ihn immer noch<lb/> über zwanzig Jahre gedauert. N. S. Bobrischtschew-Puschkin schlug, nach¬<lb/> dem er seine Sentenz vernommen hatte, ein Kreuz auf seine Brust.</p><lb/> <p xml:id="ID_515" next="#ID_516"> Der Eindruck, den wir von dieser Scene hatten, war der. daß wir uns<lb/> nicht in einem Gerichtshofe und nicht vor Richtern befanden. Das oberste<lb/> Criminalgericht war am 1. Juni niedergesetzt und bestätigt worden; es be¬<lb/> stand aus Gliedern des Neichsrathes, des Senats und des Synods (der<lb/> Oberkirchenbehörde) und fünfzehn „zucommandirten" Generalen. Das Gericht</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0196]
Wir traten ein und stellten uns in eine Linie auf. Alle Mitglieder
des Obercriminalgerichts saßen vor uns an langen Tischen längs der Wände.
Gerade vor uns saß der Metropolit mit einigen Bischöfen; rechts Generale,
links Senatoren, Alle in voller Uniform, mit Bändern und Orden geschmückt.
Ich übersah diese Abtheilungen und bemerkte in der Zahl der Generäle den
tapferen Bistram, meinen verehrten Chef, der seine Thränen nur mühsam
zurückhielt: einige Minuten vorher hatte er seinen liebsten Adjutanten, den
Fürsten E. P. Obolensky, verurtheilen sehen müssen. Einige der Richter sahen
theilnehmend, die meisten finster aus; mehrere von den Senatoren zeigten
eine unschickliche und impertinente Neugierde; um uns zu betrachten ge¬
brauchten sie nicht allein Lorgnetten, sondern große Operngucker. In der
Mitte stand der Oberseeretär des Senats, Shurawlew, und verlas die Sen¬
tenzen mit lauter vernehmlicher Stimme. Das Gericht hatte unsere (die
fünfte) Kategorie am 10. Juli zu zehnjähriger Zwangsarbeit und auf diese
folgende „ewige" Ansiedlung in Sibirien verurtheilt. Der Kaiser hatte dieses
Urtheil am 11. Juli für meine Kameraden Nepin und Küchelbecker aus acht
Jahre gemildert, für Bodisko in Betracht seiner Jugend die Zwangsarbeit
in Festungsarbeit verwandelt; Glebow und ich erwarteten, daß man unserer
unter denen erwähnen würde, deren Loos gemildert worden; statt dessen
schwieg Shurawlew und der Commandant winkte, uns in die Käsematte
zurückzuführen. — Die Ursache dieser Ausnahme, welche von 121 Verur-
theilten nur drei traf, nämlich N. A Bestushew, M. N. Glebow und mich,
suche ich, soweit sie mich betrifft, in einer augenblicklichen Reizbarkeit oder
einem vorübergehenden Unwillen des Kaisers, der es als besonderen Un¬
dank angesehen haben mochte, daß ich die mir früher von ihm erwiesene Auf¬
merksamkeit und das mir bezeigte Wohlwollen mit Parteinahme für seine
Gegner vergolten hatte. — Die ganze Ceremonie der Urtheilspublication an
die Angeklagten hat fünf Stunden lang gedauert und verlief in der tiefsten
Stille. Nur M. S. Lunin, ein Verurtheilter der dritten Kategorie, sagte,
als man ihm die Sentenz vorgelesen und der Secretär auf die Worte „ewige
Ansiedlung" besonderen Nachdruck gelegt hatte, mit lauter Stimme: „Eine
schöne Ewigkeit, ich bin schon über fünfzig Jahre alt." — Er starb zu
Nertschinsk im Jahre 1847, diese „Ewigkeit" hat mithin für ihn immer noch
über zwanzig Jahre gedauert. N. S. Bobrischtschew-Puschkin schlug, nach¬
dem er seine Sentenz vernommen hatte, ein Kreuz auf seine Brust.
Der Eindruck, den wir von dieser Scene hatten, war der. daß wir uns
nicht in einem Gerichtshofe und nicht vor Richtern befanden. Das oberste
Criminalgericht war am 1. Juni niedergesetzt und bestätigt worden; es be¬
stand aus Gliedern des Neichsrathes, des Senats und des Synods (der
Oberkirchenbehörde) und fünfzehn „zucommandirten" Generalen. Das Gericht
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