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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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könnten. Auf das Blatt eines der hier stehenden Ahornbäume hatte RrMew
seine bekannten Abschiedsverse geschrieben.

Seit dem Beginn des Juni lebte ich in steter Unruhe um meine Frau,
denn die Zeit ihrer Niederkunft rückte heran. Ich sang meine Lieder seltener,
Sokolow und Schibajew, meine Wächter, fragten mich oft, ob ich krank sei.
Mein Schlaf wurde beständig von Träumen unterbrochen; ich sah meine
Frau leidend und mich zu Hilfe rufend; mit einem Worte, der Glaube, die
feste Zuversicht wankten. Sogar in der Festung geschah, was gewöhnlich
im Leben geschieht, daß die guten Nachrichten sich verspäten, während.die
schlechten und traurigen schnell anlangen. Am 19. Juni war mein ältester Sohn
geboren worden, ich erfuhr es erst am 22.; zwei Zeilen von der Hand meiner
Frau beruhigten mich über ihre Gesundheit. Ich freute mich für sie. sie
hörte auf allein zu sein; ich segnete in Gedanken meinen Sohn und bat in
meinem Gebete, daß der ewige Vater ihm den zeitlichen Vater ersetzen möchte.
Damals hatte ich keine Hoffnung meinen Sohn zu sehen, ich erwartete die
baldige Entscheidung meines Schicksals. --

Am 12. Juli Vormittag bemerkte ich auf dem Kronwerk'schen Wall,
meinem Fenster gegenüber, einige arbeitende Zimmerleute, ohne zu begreifen,
was sie auf dem Walle aus Balken bauten. Oft kehrte ich mich zum Fenster
und einmal sah ich auf derselben Stelle zwei Generaladjutanten umhergehen.
-- Nachmittags führte Mich der Platzadjutant in die Untersuchungscommission,
wohin ich verdrossen ging, in der Erwartung einer Confrontation oder eines
neuen Verhöres. Man kann denken mit welcher Ueberraschung ich die Zim¬
mer von meinen Mitgefangenen angefüllt sah, mit welcher Freude ich
meine bekannten Kameraden umarmte. Man sagte mir, daß wir ver¬
sammelt seien, um unseren Urtheilsspruch zu vernehmen. Vergeblich suchte
ich einige meiner Kameraden, die entweder gar nicht daselbst zugegen waren,
oder die sich in höheren Kategorien befanden und schon zum Anhören ihrer
Sentenz hineingerufen worden waren. In zwei Zimmern, die an den Sitzungs¬
saal anstießen, waren die Verurtheilten nach Kategorien oder Abtheilungen
versammelt, so daß, wenn die erste Kategorie in den Sitzungssaal eintrat, die
zweite Kategorie die Stelle der ersten einnahm und die folgende nachrückte.
Nach Vorlesung der Sentenz wurden die, denen dieselbe verkündet worden,
durch die andere Seite des Saales heraus und in die Gefängnisse zurück¬
geführt, aber nicht in ihre bisherigen Nummern, sondern nach der Reihe
und der Zahl der Verurtheilten, die sich in einer Kategorie befanden. --
Ich ward zur fünften Kategorie gezählt, überhaupt waren zwölf Kategorien.
Einige Minuten hatten wir Zeit mit einander zu sprechen. Dann trat die
Wache an unsere Abiheilung, die aus fünf Mann bestand. Schildwachen
standen an jeder Thür.


Grcnjbotm IV. 1863. 23

könnten. Auf das Blatt eines der hier stehenden Ahornbäume hatte RrMew
seine bekannten Abschiedsverse geschrieben.

Seit dem Beginn des Juni lebte ich in steter Unruhe um meine Frau,
denn die Zeit ihrer Niederkunft rückte heran. Ich sang meine Lieder seltener,
Sokolow und Schibajew, meine Wächter, fragten mich oft, ob ich krank sei.
Mein Schlaf wurde beständig von Träumen unterbrochen; ich sah meine
Frau leidend und mich zu Hilfe rufend; mit einem Worte, der Glaube, die
feste Zuversicht wankten. Sogar in der Festung geschah, was gewöhnlich
im Leben geschieht, daß die guten Nachrichten sich verspäten, während.die
schlechten und traurigen schnell anlangen. Am 19. Juni war mein ältester Sohn
geboren worden, ich erfuhr es erst am 22.; zwei Zeilen von der Hand meiner
Frau beruhigten mich über ihre Gesundheit. Ich freute mich für sie. sie
hörte auf allein zu sein; ich segnete in Gedanken meinen Sohn und bat in
meinem Gebete, daß der ewige Vater ihm den zeitlichen Vater ersetzen möchte.
Damals hatte ich keine Hoffnung meinen Sohn zu sehen, ich erwartete die
baldige Entscheidung meines Schicksals. —

Am 12. Juli Vormittag bemerkte ich auf dem Kronwerk'schen Wall,
meinem Fenster gegenüber, einige arbeitende Zimmerleute, ohne zu begreifen,
was sie auf dem Walle aus Balken bauten. Oft kehrte ich mich zum Fenster
und einmal sah ich auf derselben Stelle zwei Generaladjutanten umhergehen.
— Nachmittags führte Mich der Platzadjutant in die Untersuchungscommission,
wohin ich verdrossen ging, in der Erwartung einer Confrontation oder eines
neuen Verhöres. Man kann denken mit welcher Ueberraschung ich die Zim¬
mer von meinen Mitgefangenen angefüllt sah, mit welcher Freude ich
meine bekannten Kameraden umarmte. Man sagte mir, daß wir ver¬
sammelt seien, um unseren Urtheilsspruch zu vernehmen. Vergeblich suchte
ich einige meiner Kameraden, die entweder gar nicht daselbst zugegen waren,
oder die sich in höheren Kategorien befanden und schon zum Anhören ihrer
Sentenz hineingerufen worden waren. In zwei Zimmern, die an den Sitzungs¬
saal anstießen, waren die Verurtheilten nach Kategorien oder Abtheilungen
versammelt, so daß, wenn die erste Kategorie in den Sitzungssaal eintrat, die
zweite Kategorie die Stelle der ersten einnahm und die folgende nachrückte.
Nach Vorlesung der Sentenz wurden die, denen dieselbe verkündet worden,
durch die andere Seite des Saales heraus und in die Gefängnisse zurück¬
geführt, aber nicht in ihre bisherigen Nummern, sondern nach der Reihe
und der Zahl der Verurtheilten, die sich in einer Kategorie befanden. —
Ich ward zur fünften Kategorie gezählt, überhaupt waren zwölf Kategorien.
Einige Minuten hatten wir Zeit mit einander zu sprechen. Dann trat die
Wache an unsere Abiheilung, die aus fünf Mann bestand. Schildwachen
standen an jeder Thür.


Grcnjbotm IV. 1863. 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/195>, abgerufen am 05.02.2025.