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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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hätte? -- Die ersten beiden Fragen bejahte, die dritte verneinte ich. Darauf
hieß man mich die Papiere unterzeichnen. In den Gesichtszügen Benken-
dorff's las ich, daß es mir schlecht gehen würde. Der Senateur Baranow
war nicht Mitglied der Untersuchungscommission, aber als Mitglied des zu
unserer Verurtheilung niedergesetzten obersten Criminalgerichts mußte er sich
von der Richtigkeit der Unterschriften überzeugen. Das war die einzige
Procedur, welche noch fehlte; die Verurtheilung mußte mithin schon erfolgt
sein. Pestel, Ryle'jew, Murawiew-Apostol, S. A. Juschnewsky, Bestushew
und einige Andere hatten diese letzte Befragung dazu benutzt, offen ihre
Ueberzeugungen zu verkünden, und die Mißbräuche und Ungerechtigkeiten
des herrschenden Systems in aller Schärfe bloszulegen. Die Mehrzahl der
Angeklagten hatte dagegen bei dieser Gelegenheit frühere Aussagen zurück¬
genommen oder verändert, nicht aus Furcht oder Reue, sondern weil die
Heimlichkeit des Verfahrens es überflüssig erscheinen ließ, Bekenntnisse abzu¬
legen, die ihnen selbst die Strafe nur vergrößert und andere Mitschuldige
vielleicht compromittirt hätten. -- Auf meinem Rückwege in die Kasematten
sog ich mit Begierde die Mailuft ein; am Gartenzaune vorüberstreifend
psückte ich einige Grashalme; dann beschleunigte ich meine Schritte, um mir
das Herz nicht zu sehr erweichen zu lassen. Gefühlvolle Seelen werden mir
glauben, daß ich diese Gräser küßte und bewunderte; als sie verwelkten,
beobachtete ich noch jede Faser derselben und verglich die Formen und Unter¬
schiede. Sie waren das Einzige, was ich in Monaten von dem, was die
Natur dem Menschen bietet, berührt hatte.

Vom 17. Mai an wurden die Bewegungen und Stimmen in unserem
Corndor seltener und leiser. Nur die täglichen Visitationen des Platzmajors,
der Festungsadjutanten und des Wächters unterbrachen die einförmige Stille,
die bisweilen in einigen Nummern oder Gefängnißzellen auf einige Minuten
durch ein Lied, durch eine Declamation, durch einen Seufzer unterbrochen
wurde. -- Einer meiner Unglücksgefährten, M. A. Fon-Wisin, konnte die
Eingeschlossenheit nicht ertragen; seine Seele war stark, sein Muth ungebrochen,
die Nerven aber in dem Zustand so furchtbarer Erregung, daß man endlich
befohlen hatte, seine Thüre nicht mit Riegeln und Schlössern zu verschließen,
sondern eine Wache in seine Nummer zu stellen. -- Sechszehn meiner Kame¬
raden saßen von den Uebrigen getrennt in einer geheimen Abtheilung der
Festung, in dem Alexejewschen Ravelin, wo ein besonderer Civilbeamter für ihre
Beaufsichtigung und Ueberwachung angestellt worden war. Vor den Fenstern
stand eine hohe Mauer, der innere dreieckige Raum des Ravelins war von
drei Mauern eingeschlossen, die gar kein Fenster, nur eine Thür hatten; hier auf
einem engen Raume wuchsen einige Bäume und Hieher führte man zuweilen
einzelne Gefangene auf ein Viertelstündchen, damit sie frische Lust schöpfen


hätte? — Die ersten beiden Fragen bejahte, die dritte verneinte ich. Darauf
hieß man mich die Papiere unterzeichnen. In den Gesichtszügen Benken-
dorff's las ich, daß es mir schlecht gehen würde. Der Senateur Baranow
war nicht Mitglied der Untersuchungscommission, aber als Mitglied des zu
unserer Verurtheilung niedergesetzten obersten Criminalgerichts mußte er sich
von der Richtigkeit der Unterschriften überzeugen. Das war die einzige
Procedur, welche noch fehlte; die Verurtheilung mußte mithin schon erfolgt
sein. Pestel, Ryle'jew, Murawiew-Apostol, S. A. Juschnewsky, Bestushew
und einige Andere hatten diese letzte Befragung dazu benutzt, offen ihre
Ueberzeugungen zu verkünden, und die Mißbräuche und Ungerechtigkeiten
des herrschenden Systems in aller Schärfe bloszulegen. Die Mehrzahl der
Angeklagten hatte dagegen bei dieser Gelegenheit frühere Aussagen zurück¬
genommen oder verändert, nicht aus Furcht oder Reue, sondern weil die
Heimlichkeit des Verfahrens es überflüssig erscheinen ließ, Bekenntnisse abzu¬
legen, die ihnen selbst die Strafe nur vergrößert und andere Mitschuldige
vielleicht compromittirt hätten. — Auf meinem Rückwege in die Kasematten
sog ich mit Begierde die Mailuft ein; am Gartenzaune vorüberstreifend
psückte ich einige Grashalme; dann beschleunigte ich meine Schritte, um mir
das Herz nicht zu sehr erweichen zu lassen. Gefühlvolle Seelen werden mir
glauben, daß ich diese Gräser küßte und bewunderte; als sie verwelkten,
beobachtete ich noch jede Faser derselben und verglich die Formen und Unter¬
schiede. Sie waren das Einzige, was ich in Monaten von dem, was die
Natur dem Menschen bietet, berührt hatte.

Vom 17. Mai an wurden die Bewegungen und Stimmen in unserem
Corndor seltener und leiser. Nur die täglichen Visitationen des Platzmajors,
der Festungsadjutanten und des Wächters unterbrachen die einförmige Stille,
die bisweilen in einigen Nummern oder Gefängnißzellen auf einige Minuten
durch ein Lied, durch eine Declamation, durch einen Seufzer unterbrochen
wurde. — Einer meiner Unglücksgefährten, M. A. Fon-Wisin, konnte die
Eingeschlossenheit nicht ertragen; seine Seele war stark, sein Muth ungebrochen,
die Nerven aber in dem Zustand so furchtbarer Erregung, daß man endlich
befohlen hatte, seine Thüre nicht mit Riegeln und Schlössern zu verschließen,
sondern eine Wache in seine Nummer zu stellen. — Sechszehn meiner Kame¬
raden saßen von den Uebrigen getrennt in einer geheimen Abtheilung der
Festung, in dem Alexejewschen Ravelin, wo ein besonderer Civilbeamter für ihre
Beaufsichtigung und Ueberwachung angestellt worden war. Vor den Fenstern
stand eine hohe Mauer, der innere dreieckige Raum des Ravelins war von
drei Mauern eingeschlossen, die gar kein Fenster, nur eine Thür hatten; hier auf
einem engen Raume wuchsen einige Bäume und Hieher führte man zuweilen
einzelne Gefangene auf ein Viertelstündchen, damit sie frische Lust schöpfen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/194>, abgerufen am 05.02.2025.