Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Südens" und "vereinigte Slaven" das eine Ziel verfolgten, Rußland eine
constitutionelle Staatsform zu schaffen. Man wußte, daß sich der Kaiser
Alexander selbst mit ähnlichen Gedanken trug und glaubte darum im Sinne
desselben zu handeln, wenn man einer Umgestaltung der russischen Verhältnisse
vorarbeitete. Alexander aber, erschreckt durch die liberale Bewegung in Deutsch¬
land, lenkte bald in andere Bahnen und jetzt stand der junge Milttäradel
in directen Gegensatz zu dem herrschenden System. Verschiedene Repressions-
maßregeln blieben erfolglos, zumal auch ein Theil der Soldaten von dem
französischen Gift angesteckt war und eine Behandlung wünschte, wie er sie in
Frankreich gesehen hatte und gewohnt geworden war. Die Enragis unter den
Verschwörern wurden dem Kaiser immer mehr entfremdet und wandten sich
einem republicanischen Ideal zu. -- Noch bevor Alexander starb, waren
Schilderhebungen in Petersburg und in Südrußland im Werke; sein Tod
brachte das Unternehmen zur Ausführung, ehe es reif geworden war. Man
glaubte die Verwirrung benutzen zu müssen, die durch Constantin's Entsagung
entstanden war und schlug los, bevor die Organisation des Aufstandes einen
sicheren Ausgang verbürgte; hatte erst Nikolaus' feste Hand die Zügel der
Regierung ergriffen, so erschien es unmöglich, irgend etwas gegen die Dy¬
nastie und die ihr ergebenen Massen auszurichten.

Der Aufstand von 1825 brach gleichzeitig an zwei Punkten aus und
mißlang an beiden. Ihre Theilnehmer beabsichtigten eine politische Unmöglichkeit
und hatten es sich somit selbst zuzuschreiben, wenn sie die Opfer ihrer Un¬
besonnenheit wurden. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es die Blüthe
der Garde, überhaupt der jungen Intelligenz gewesen war, welche den Hand¬
streich von 1825 gewagt hatte. Mit jugendlicher Begeisterung hing man an
einer Anzahl begabter, aber gleichfalls dem wirklichen Leben fernstehender
Führer; unser Memoirenschreiber und mit ihm viele andere Offiziere hielten
es für ein Gebot der Ehre, Gefahr und Noth mit den Männern zu theilen,
die sie als edle, begeisterte Vorkämpfer der modernen Ideen kannten. -- Das
Bewußtsein, den Besten anzugehören, wirkte stärker, als die Furcht vor Tod
und Exil -- man war zum ersten Mal mit dem Idealismus in Berührung
gekommen und konnte der Zauberkraft eines Unternehmens nicht widerstehen,
das Jedem, der an ihm Theil nahm, einen Platz unter den Besten seiner
Zeit zusicherte.

So erscheinen die "Dekabristen" als jugendliche Schwärmer, die wesent¬
lich noch nach einem anderen als dem blos politischen Maßstabe beurtheilt werden
müssen. Das harte Loos, das ihnen zu Theil wurde, hat ihre Schuld ge¬
sühnt und dem Leser, der heute von ihren Geschicken liest, ist die Möglichkeit
rein humaner Theilnahme an dem ersten Versuch, Rußland in die Bahnen
des westeuropäischen Liberalismus zu ziehen, offen gelassen.




Südens" und „vereinigte Slaven" das eine Ziel verfolgten, Rußland eine
constitutionelle Staatsform zu schaffen. Man wußte, daß sich der Kaiser
Alexander selbst mit ähnlichen Gedanken trug und glaubte darum im Sinne
desselben zu handeln, wenn man einer Umgestaltung der russischen Verhältnisse
vorarbeitete. Alexander aber, erschreckt durch die liberale Bewegung in Deutsch¬
land, lenkte bald in andere Bahnen und jetzt stand der junge Milttäradel
in directen Gegensatz zu dem herrschenden System. Verschiedene Repressions-
maßregeln blieben erfolglos, zumal auch ein Theil der Soldaten von dem
französischen Gift angesteckt war und eine Behandlung wünschte, wie er sie in
Frankreich gesehen hatte und gewohnt geworden war. Die Enragis unter den
Verschwörern wurden dem Kaiser immer mehr entfremdet und wandten sich
einem republicanischen Ideal zu. — Noch bevor Alexander starb, waren
Schilderhebungen in Petersburg und in Südrußland im Werke; sein Tod
brachte das Unternehmen zur Ausführung, ehe es reif geworden war. Man
glaubte die Verwirrung benutzen zu müssen, die durch Constantin's Entsagung
entstanden war und schlug los, bevor die Organisation des Aufstandes einen
sicheren Ausgang verbürgte; hatte erst Nikolaus' feste Hand die Zügel der
Regierung ergriffen, so erschien es unmöglich, irgend etwas gegen die Dy¬
nastie und die ihr ergebenen Massen auszurichten.

Der Aufstand von 1825 brach gleichzeitig an zwei Punkten aus und
mißlang an beiden. Ihre Theilnehmer beabsichtigten eine politische Unmöglichkeit
und hatten es sich somit selbst zuzuschreiben, wenn sie die Opfer ihrer Un¬
besonnenheit wurden. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es die Blüthe
der Garde, überhaupt der jungen Intelligenz gewesen war, welche den Hand¬
streich von 1825 gewagt hatte. Mit jugendlicher Begeisterung hing man an
einer Anzahl begabter, aber gleichfalls dem wirklichen Leben fernstehender
Führer; unser Memoirenschreiber und mit ihm viele andere Offiziere hielten
es für ein Gebot der Ehre, Gefahr und Noth mit den Männern zu theilen,
die sie als edle, begeisterte Vorkämpfer der modernen Ideen kannten. — Das
Bewußtsein, den Besten anzugehören, wirkte stärker, als die Furcht vor Tod
und Exil — man war zum ersten Mal mit dem Idealismus in Berührung
gekommen und konnte der Zauberkraft eines Unternehmens nicht widerstehen,
das Jedem, der an ihm Theil nahm, einen Platz unter den Besten seiner
Zeit zusicherte.

So erscheinen die „Dekabristen" als jugendliche Schwärmer, die wesent¬
lich noch nach einem anderen als dem blos politischen Maßstabe beurtheilt werden
müssen. Das harte Loos, das ihnen zu Theil wurde, hat ihre Schuld ge¬
sühnt und dem Leser, der heute von ihren Geschicken liest, ist die Möglichkeit
rein humaner Theilnahme an dem ersten Versuch, Rußland in die Bahnen
des westeuropäischen Liberalismus zu ziehen, offen gelassen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0188" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287460"/>
            <p xml:id="ID_486" prev="#ID_485"> Südens" und &#x201E;vereinigte Slaven" das eine Ziel verfolgten, Rußland eine<lb/>
constitutionelle Staatsform zu schaffen. Man wußte, daß sich der Kaiser<lb/>
Alexander selbst mit ähnlichen Gedanken trug und glaubte darum im Sinne<lb/>
desselben zu handeln, wenn man einer Umgestaltung der russischen Verhältnisse<lb/>
vorarbeitete. Alexander aber, erschreckt durch die liberale Bewegung in Deutsch¬<lb/>
land, lenkte bald in andere Bahnen und jetzt stand der junge Milttäradel<lb/>
in directen Gegensatz zu dem herrschenden System. Verschiedene Repressions-<lb/>
maßregeln blieben erfolglos, zumal auch ein Theil der Soldaten von dem<lb/>
französischen Gift angesteckt war und eine Behandlung wünschte, wie er sie in<lb/>
Frankreich gesehen hatte und gewohnt geworden war. Die Enragis unter den<lb/>
Verschwörern wurden dem Kaiser immer mehr entfremdet und wandten sich<lb/>
einem republicanischen Ideal zu. &#x2014; Noch bevor Alexander starb, waren<lb/>
Schilderhebungen in Petersburg und in Südrußland im Werke; sein Tod<lb/>
brachte das Unternehmen zur Ausführung, ehe es reif geworden war. Man<lb/>
glaubte die Verwirrung benutzen zu müssen, die durch Constantin's Entsagung<lb/>
entstanden war und schlug los, bevor die Organisation des Aufstandes einen<lb/>
sicheren Ausgang verbürgte; hatte erst Nikolaus' feste Hand die Zügel der<lb/>
Regierung ergriffen, so erschien es unmöglich, irgend etwas gegen die Dy¬<lb/>
nastie und die ihr ergebenen Massen auszurichten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_487"> Der Aufstand von 1825 brach gleichzeitig an zwei Punkten aus und<lb/>
mißlang an beiden. Ihre Theilnehmer beabsichtigten eine politische Unmöglichkeit<lb/>
und hatten es sich somit selbst zuzuschreiben, wenn sie die Opfer ihrer Un¬<lb/>
besonnenheit wurden. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es die Blüthe<lb/>
der Garde, überhaupt der jungen Intelligenz gewesen war, welche den Hand¬<lb/>
streich von 1825 gewagt hatte. Mit jugendlicher Begeisterung hing man an<lb/>
einer Anzahl begabter, aber gleichfalls dem wirklichen Leben fernstehender<lb/>
Führer; unser Memoirenschreiber und mit ihm viele andere Offiziere hielten<lb/>
es für ein Gebot der Ehre, Gefahr und Noth mit den Männern zu theilen,<lb/>
die sie als edle, begeisterte Vorkämpfer der modernen Ideen kannten. &#x2014; Das<lb/>
Bewußtsein, den Besten anzugehören, wirkte stärker, als die Furcht vor Tod<lb/>
und Exil &#x2014; man war zum ersten Mal mit dem Idealismus in Berührung<lb/>
gekommen und konnte der Zauberkraft eines Unternehmens nicht widerstehen,<lb/>
das Jedem, der an ihm Theil nahm, einen Platz unter den Besten seiner<lb/>
Zeit zusicherte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_488"> So erscheinen die &#x201E;Dekabristen" als jugendliche Schwärmer, die wesent¬<lb/>
lich noch nach einem anderen als dem blos politischen Maßstabe beurtheilt werden<lb/>
müssen. Das harte Loos, das ihnen zu Theil wurde, hat ihre Schuld ge¬<lb/>
sühnt und dem Leser, der heute von ihren Geschicken liest, ist die Möglichkeit<lb/>
rein humaner Theilnahme an dem ersten Versuch, Rußland in die Bahnen<lb/>
des westeuropäischen Liberalismus zu ziehen, offen gelassen.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0188] Südens" und „vereinigte Slaven" das eine Ziel verfolgten, Rußland eine constitutionelle Staatsform zu schaffen. Man wußte, daß sich der Kaiser Alexander selbst mit ähnlichen Gedanken trug und glaubte darum im Sinne desselben zu handeln, wenn man einer Umgestaltung der russischen Verhältnisse vorarbeitete. Alexander aber, erschreckt durch die liberale Bewegung in Deutsch¬ land, lenkte bald in andere Bahnen und jetzt stand der junge Milttäradel in directen Gegensatz zu dem herrschenden System. Verschiedene Repressions- maßregeln blieben erfolglos, zumal auch ein Theil der Soldaten von dem französischen Gift angesteckt war und eine Behandlung wünschte, wie er sie in Frankreich gesehen hatte und gewohnt geworden war. Die Enragis unter den Verschwörern wurden dem Kaiser immer mehr entfremdet und wandten sich einem republicanischen Ideal zu. — Noch bevor Alexander starb, waren Schilderhebungen in Petersburg und in Südrußland im Werke; sein Tod brachte das Unternehmen zur Ausführung, ehe es reif geworden war. Man glaubte die Verwirrung benutzen zu müssen, die durch Constantin's Entsagung entstanden war und schlug los, bevor die Organisation des Aufstandes einen sicheren Ausgang verbürgte; hatte erst Nikolaus' feste Hand die Zügel der Regierung ergriffen, so erschien es unmöglich, irgend etwas gegen die Dy¬ nastie und die ihr ergebenen Massen auszurichten. Der Aufstand von 1825 brach gleichzeitig an zwei Punkten aus und mißlang an beiden. Ihre Theilnehmer beabsichtigten eine politische Unmöglichkeit und hatten es sich somit selbst zuzuschreiben, wenn sie die Opfer ihrer Un¬ besonnenheit wurden. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es die Blüthe der Garde, überhaupt der jungen Intelligenz gewesen war, welche den Hand¬ streich von 1825 gewagt hatte. Mit jugendlicher Begeisterung hing man an einer Anzahl begabter, aber gleichfalls dem wirklichen Leben fernstehender Führer; unser Memoirenschreiber und mit ihm viele andere Offiziere hielten es für ein Gebot der Ehre, Gefahr und Noth mit den Männern zu theilen, die sie als edle, begeisterte Vorkämpfer der modernen Ideen kannten. — Das Bewußtsein, den Besten anzugehören, wirkte stärker, als die Furcht vor Tod und Exil — man war zum ersten Mal mit dem Idealismus in Berührung gekommen und konnte der Zauberkraft eines Unternehmens nicht widerstehen, das Jedem, der an ihm Theil nahm, einen Platz unter den Besten seiner Zeit zusicherte. So erscheinen die „Dekabristen" als jugendliche Schwärmer, die wesent¬ lich noch nach einem anderen als dem blos politischen Maßstabe beurtheilt werden müssen. Das harte Loos, das ihnen zu Theil wurde, hat ihre Schuld ge¬ sühnt und dem Leser, der heute von ihren Geschicken liest, ist die Möglichkeit rein humaner Theilnahme an dem ersten Versuch, Rußland in die Bahnen des westeuropäischen Liberalismus zu ziehen, offen gelassen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/188
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/188>, abgerufen am 05.02.2025.