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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Der Platzadjutant besichtigte mein Gefängniß täglich; doch war er nicht
gesprächig und so war ich blos auf mich selbst angewiesen. Um meinen Körper
in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. trampelte ich täglich auf einer und der¬
selben Stelle umher, drehte ich mich im engen Raume, soviel ich konnte. Der
Schlaf verkürzte mir die Hälfte der Zeit. Die Nahrung war gesund, ein-
fach, genugsam, nicht so karg wie im Palaste. Sehr oft, besonders am
Abend, hatte ich ein Bedürfniß zu singen; das Singen stärkte meine Brust,
ersetzte mir die Unterhaltung; mit dem Gesänge drückte ich meine Gemüths¬
stimmung aus. Ich sang Prosa und von mir selbst gereimte Lieder, setzte
meine eigenen Melodien zusammen und erinnerte mich vieler alten Lieder.
So sang ich einst am späten Abend das allgemein bekannte russische Lied:
"Mitten im ebenen Thale stand eine beschattende Eiche." -- Beim zweiten
Vers hörte ich eine andere Stimme hinter der aus Balken zusammengesetzten
Scheidewand mich begleiten; ich erkannte die Stimme meines Wärters. --
Ein gutes Zeichen! dachte ich, wenn er mit mir singt, so wird er auch
mit mir sprechen. Ich wiederholte das Lied noch einmal von Anfang bis
Ende, er begleitete mich lauter und kannte die Worte besser als ich. -- Als
er mir die Nahrung brachte, dankte ich ihm für die Begleitung des Liedes,
er entschloß sich mir zu antworten: "Gott sei gedankt, daß Sie sich nicht lang¬
weilen, daß Sie ein heiteres Herz haben." -- Seit dieser Stunde fing er
an gesprächig zu werden und antwortete gern auf meine Fragen.

"Sage mir, Sokolow" -- so hieß der Feuerwerker -- "was soll ich
thun, um mir Bücher zu verschaffen? ich höre wie mein Nachbar in Ur. 16,
schräg mir gegenüber, ganze Nächte durch in Büchern blättert." --

"Gott behüte Sie vor solchen Büchern! Das Herzenskind da liest
und schreibt so viel, daß es sich schon Ketten an die Hände geschrieben
hat." --

"Was soll das bedeuten?"

"Ja, man hat ihm an beide Hände eine eiserne Kette von fünfzehn
Pfund geschmiedet." Es war ein junger Mensch von einundzwanzig Jah¬
ren, Bestushew Rjumin, der stark verwickelt war, sowohl in die Unterneh¬
mungen der polnischen, als die der russischen Verschwörer; man wollte ihn
auf solche Weise zu vollem Geständniß zwingen. Er drückte sich besser in
der französischen als in der russischen Sprache aus, da er seine Geständnisse
aber russisch niederschreiben mußte, so hatte man ihm Wörterbücher ge¬
geben und deshalb hörte ich das eilige und öftere Blättern in den großen
Folianten.

Einige Tage später hörte ich Kettengeklirre mir gegenüber in Ur. Is.
"Hat man noch einen neuen Arrestanten hineingesetzt?" fragte ich Sokolow.


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Der Platzadjutant besichtigte mein Gefängniß täglich; doch war er nicht
gesprächig und so war ich blos auf mich selbst angewiesen. Um meinen Körper
in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. trampelte ich täglich auf einer und der¬
selben Stelle umher, drehte ich mich im engen Raume, soviel ich konnte. Der
Schlaf verkürzte mir die Hälfte der Zeit. Die Nahrung war gesund, ein-
fach, genugsam, nicht so karg wie im Palaste. Sehr oft, besonders am
Abend, hatte ich ein Bedürfniß zu singen; das Singen stärkte meine Brust,
ersetzte mir die Unterhaltung; mit dem Gesänge drückte ich meine Gemüths¬
stimmung aus. Ich sang Prosa und von mir selbst gereimte Lieder, setzte
meine eigenen Melodien zusammen und erinnerte mich vieler alten Lieder.
So sang ich einst am späten Abend das allgemein bekannte russische Lied:
„Mitten im ebenen Thale stand eine beschattende Eiche." — Beim zweiten
Vers hörte ich eine andere Stimme hinter der aus Balken zusammengesetzten
Scheidewand mich begleiten; ich erkannte die Stimme meines Wärters. —
Ein gutes Zeichen! dachte ich, wenn er mit mir singt, so wird er auch
mit mir sprechen. Ich wiederholte das Lied noch einmal von Anfang bis
Ende, er begleitete mich lauter und kannte die Worte besser als ich. — Als
er mir die Nahrung brachte, dankte ich ihm für die Begleitung des Liedes,
er entschloß sich mir zu antworten: „Gott sei gedankt, daß Sie sich nicht lang¬
weilen, daß Sie ein heiteres Herz haben." — Seit dieser Stunde fing er
an gesprächig zu werden und antwortete gern auf meine Fragen.

„Sage mir, Sokolow" — so hieß der Feuerwerker — „was soll ich
thun, um mir Bücher zu verschaffen? ich höre wie mein Nachbar in Ur. 16,
schräg mir gegenüber, ganze Nächte durch in Büchern blättert." —

„Gott behüte Sie vor solchen Büchern! Das Herzenskind da liest
und schreibt so viel, daß es sich schon Ketten an die Hände geschrieben
hat." —

„Was soll das bedeuten?"

„Ja, man hat ihm an beide Hände eine eiserne Kette von fünfzehn
Pfund geschmiedet." Es war ein junger Mensch von einundzwanzig Jah¬
ren, Bestushew Rjumin, der stark verwickelt war, sowohl in die Unterneh¬
mungen der polnischen, als die der russischen Verschwörer; man wollte ihn
auf solche Weise zu vollem Geständniß zwingen. Er drückte sich besser in
der französischen als in der russischen Sprache aus, da er seine Geständnisse
aber russisch niederschreiben mußte, so hatte man ihm Wörterbücher ge¬
geben und deshalb hörte ich das eilige und öftere Blättern in den großen
Folianten.

Einige Tage später hörte ich Kettengeklirre mir gegenüber in Ur. Is.
„Hat man noch einen neuen Arrestanten hineingesetzt?" fragte ich Sokolow.


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[0189] Der Platzadjutant besichtigte mein Gefängniß täglich; doch war er nicht gesprächig und so war ich blos auf mich selbst angewiesen. Um meinen Körper in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. trampelte ich täglich auf einer und der¬ selben Stelle umher, drehte ich mich im engen Raume, soviel ich konnte. Der Schlaf verkürzte mir die Hälfte der Zeit. Die Nahrung war gesund, ein- fach, genugsam, nicht so karg wie im Palaste. Sehr oft, besonders am Abend, hatte ich ein Bedürfniß zu singen; das Singen stärkte meine Brust, ersetzte mir die Unterhaltung; mit dem Gesänge drückte ich meine Gemüths¬ stimmung aus. Ich sang Prosa und von mir selbst gereimte Lieder, setzte meine eigenen Melodien zusammen und erinnerte mich vieler alten Lieder. So sang ich einst am späten Abend das allgemein bekannte russische Lied: „Mitten im ebenen Thale stand eine beschattende Eiche." — Beim zweiten Vers hörte ich eine andere Stimme hinter der aus Balken zusammengesetzten Scheidewand mich begleiten; ich erkannte die Stimme meines Wärters. — Ein gutes Zeichen! dachte ich, wenn er mit mir singt, so wird er auch mit mir sprechen. Ich wiederholte das Lied noch einmal von Anfang bis Ende, er begleitete mich lauter und kannte die Worte besser als ich. — Als er mir die Nahrung brachte, dankte ich ihm für die Begleitung des Liedes, er entschloß sich mir zu antworten: „Gott sei gedankt, daß Sie sich nicht lang¬ weilen, daß Sie ein heiteres Herz haben." — Seit dieser Stunde fing er an gesprächig zu werden und antwortete gern auf meine Fragen. „Sage mir, Sokolow" — so hieß der Feuerwerker — „was soll ich thun, um mir Bücher zu verschaffen? ich höre wie mein Nachbar in Ur. 16, schräg mir gegenüber, ganze Nächte durch in Büchern blättert." — „Gott behüte Sie vor solchen Büchern! Das Herzenskind da liest und schreibt so viel, daß es sich schon Ketten an die Hände geschrieben hat." — „Was soll das bedeuten?" „Ja, man hat ihm an beide Hände eine eiserne Kette von fünfzehn Pfund geschmiedet." Es war ein junger Mensch von einundzwanzig Jah¬ ren, Bestushew Rjumin, der stark verwickelt war, sowohl in die Unterneh¬ mungen der polnischen, als die der russischen Verschwörer; man wollte ihn auf solche Weise zu vollem Geständniß zwingen. Er drückte sich besser in der französischen als in der russischen Sprache aus, da er seine Geständnisse aber russisch niederschreiben mußte, so hatte man ihm Wörterbücher ge¬ geben und deshalb hörte ich das eilige und öftere Blättern in den großen Folianten. Einige Tage später hörte ich Kettengeklirre mir gegenüber in Ur. Is. „Hat man noch einen neuen Arrestanten hineingesetzt?" fragte ich Sokolow. 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/189>, abgerufen am 05.02.2025.