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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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bunteren Augen durch das nächste sehr gut erleuchtete Zimmer führte; ich
hörte eine Menge Federn kratzen, ohne die Schreiber unterscheiden zu können.
In dem folgenden Zimmer wiederum Federkratzen ohne Wortlaut. Endlich
in dem dritten Zimmer angelangt, sagte mir der Platzmajor mit halber
Stimme: "Bleiben Sie hier stehen." -- Eine halbe Minute lang war kein
Laut, keine Bewegung zu hören, darauf erschallten die Worte: -- "Nehmen
Sie das Tuch ab!" -- es war die Stimme des Großfürsten Michail. -- Ich sah
einen langen Tisch vor mir; am obersten Ende desselben saß der Präsident
der Commission, Kriegsminister Tatischtschew, rechts von ihm der Großfürst
-- dann folgten der berühmte I. I. Dibitsch -- S. A. Kutusow und der General¬
adjutant v. Benkendorff; -- links saßen Fürst A. N. Galitzyn. der einzige
Civilbeamte, General A. I. Tschernytschew*), U. B. Lewaschow und der
Obrist W. Adlerberg**), der die Functionen eines Secretärs übernommen hatte.
Sie alle waren in vieler Hinsicht achtungswerthe Männer, aber Keiner von
ihnen konnte auf die Eigenschaften eines gebildeten, competenten und unpar¬
teiischen Richters Anspruch machen. Die Verhöre dieser Untersuchungscom¬
mission waren in Nichts von denen unterschieden, welche die Generaladju¬
tanten im Cabinet des Kaisers abgehalten hatten. Sollte diese Untersuchungs¬
commission ein Kriegsgericht sein? Dann konnte die ganze Sache in 24 Stun¬
den ohne Rechtskundige entschieden werden, das Kriegsreglement hätte jeden
Beschuldigten sogleich zum Tode verurtheilt! -- Und diese Art von Gerichts¬
barkeit, in der lediglich Offiziere Recht sprachen und die Ankläger zugleich die
Richter spielten, war die damals in Rußland gebräuchliche, sobald es sich
um wichtigere Fälle handelte!

Die erste Frage wurde vom Großfürsten Michail an mich gerichtet: -- "Wie
konnten Sie als Commandeur eines bloßen Scharfschützenzuges drei ganze
Compagnien zurückhalten, die zum Theil vor Ihrem Zuge standen?" -- "Als
das Bataillon aus den Casernen rückte, war es in Compagnieeolonnen auf¬
gestellt, so daß mein Zug sich vor den drei Jägercompagnien befand." -- "Par¬
don, ich habe diesen Umstand nicht gekannt" bemerkte der Großfürst mit
freundlicher Stimme.

Darauf fragte Dibitsch, warum ich meine Soldaten auf der Mitte der
langen Jsaaksbrücke angehalten hätte. Ich antwortete, daß, nachdem ich per¬
sönlich wahrgenommen, daß auf dem Senatsplatze kein Anführer, keine Ein¬
heit und Pünktlichkeit in den Anordnungen sei, es mir am zweckmäßigsten er¬
schienen sei, stehen zu bleiben und nicht direct zu handeln. -- "Ich verstehe"
sagte Dibitsch als Taktiker, "Sie beabsichtigten eine entscheidende Reserve zu
bilden."




*) Später Kriegsminister und Fürst.
'*) Gegenwärtig Graf und Minister des kaiserlichen Hauses.

bunteren Augen durch das nächste sehr gut erleuchtete Zimmer führte; ich
hörte eine Menge Federn kratzen, ohne die Schreiber unterscheiden zu können.
In dem folgenden Zimmer wiederum Federkratzen ohne Wortlaut. Endlich
in dem dritten Zimmer angelangt, sagte mir der Platzmajor mit halber
Stimme: „Bleiben Sie hier stehen." — Eine halbe Minute lang war kein
Laut, keine Bewegung zu hören, darauf erschallten die Worte: — „Nehmen
Sie das Tuch ab!" — es war die Stimme des Großfürsten Michail. — Ich sah
einen langen Tisch vor mir; am obersten Ende desselben saß der Präsident
der Commission, Kriegsminister Tatischtschew, rechts von ihm der Großfürst
— dann folgten der berühmte I. I. Dibitsch — S. A. Kutusow und der General¬
adjutant v. Benkendorff; — links saßen Fürst A. N. Galitzyn. der einzige
Civilbeamte, General A. I. Tschernytschew*), U. B. Lewaschow und der
Obrist W. Adlerberg**), der die Functionen eines Secretärs übernommen hatte.
Sie alle waren in vieler Hinsicht achtungswerthe Männer, aber Keiner von
ihnen konnte auf die Eigenschaften eines gebildeten, competenten und unpar¬
teiischen Richters Anspruch machen. Die Verhöre dieser Untersuchungscom¬
mission waren in Nichts von denen unterschieden, welche die Generaladju¬
tanten im Cabinet des Kaisers abgehalten hatten. Sollte diese Untersuchungs¬
commission ein Kriegsgericht sein? Dann konnte die ganze Sache in 24 Stun¬
den ohne Rechtskundige entschieden werden, das Kriegsreglement hätte jeden
Beschuldigten sogleich zum Tode verurtheilt! — Und diese Art von Gerichts¬
barkeit, in der lediglich Offiziere Recht sprachen und die Ankläger zugleich die
Richter spielten, war die damals in Rußland gebräuchliche, sobald es sich
um wichtigere Fälle handelte!

Die erste Frage wurde vom Großfürsten Michail an mich gerichtet: — „Wie
konnten Sie als Commandeur eines bloßen Scharfschützenzuges drei ganze
Compagnien zurückhalten, die zum Theil vor Ihrem Zuge standen?" — „Als
das Bataillon aus den Casernen rückte, war es in Compagnieeolonnen auf¬
gestellt, so daß mein Zug sich vor den drei Jägercompagnien befand." — „Par¬
don, ich habe diesen Umstand nicht gekannt" bemerkte der Großfürst mit
freundlicher Stimme.

Darauf fragte Dibitsch, warum ich meine Soldaten auf der Mitte der
langen Jsaaksbrücke angehalten hätte. Ich antwortete, daß, nachdem ich per¬
sönlich wahrgenommen, daß auf dem Senatsplatze kein Anführer, keine Ein¬
heit und Pünktlichkeit in den Anordnungen sei, es mir am zweckmäßigsten er¬
schienen sei, stehen zu bleiben und nicht direct zu handeln. — „Ich verstehe"
sagte Dibitsch als Taktiker, „Sie beabsichtigten eine entscheidende Reserve zu
bilden."




*) Später Kriegsminister und Fürst.
'*) Gegenwärtig Graf und Minister des kaiserlichen Hauses.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/159>, abgerufen am 05.02.2025.