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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Adel sieht in der Verfassungsfrage eine günstige Gelegenheit zur Wiederer¬
langung verlorener ständischer Prärogative, die märkische Ritterschaft bittet
den König direct, sich auf keine Konstitution einzulassen, der schlesische Adel
wünscht die Wiedereinführung der Erbunterthänigkeit. andere Verbände agi-
tiren für die Begründung besonderer Adelsschulen, Allen ist die Abneigung
gegen die Stein'schen Reformen, die französischen Einrichtungen am Rhein
und die constitutionellen Experimente in Süddeutschland gemein. Im Mili¬
tär führen die bürgerlichen Elemente aus der Gneisenau-Scharnhorst'schen
Schule einen erbitterten aber vergeblichen Kampf gegen die aristokratische
Partei, an deren Spitze der Herzog von Mecklenburg steht, in dem niederen
Volk bricht der Unmuth gegen die wiederkehrende Hoffahrt des säbelklirren¬
den Junkerthums bei jeder sich darbietenden Gelegenheit zu hellen Flammen
aus. Das scandaleuse Attentat des jungen Grafen Blücher gegen den
Schauspieler Stich, der "Wolfahrt'sche Handel", in den ein Fräulein von
Altrock verwickelt ist, Ladendiebstähle, auf welchen zwei adlige Damen er¬
tappt werden, führen zu Volksaufläufen, die trotz ihrer Geringfügigkeit die
öffentliche Meinung wochenlang beschäftigen und ängstigen. Wohl treten der
König und die Prinzen, unterstützt von einzelnen würdigen Veteranen, für
die Sache des Rechts ein, um der Zuchtlosigkeit der aufgeblähten jungen
Gardearistokraten zu steuern, aber die gesammte vornehme Gesellschaft stellt
sich auf die Seite der Privilegirten, "schleicht sich auf tausend Wegen in die
Nähe des Königs, der Prinzen und Minister und gewinnt im Voraus An¬
sehen, ehe noch die Dinge von den Staatsbehörden entschieden sind." -- Im
gebildeten Mittelstande herrscht die tiefste Verbitterung gegen das herrschende
System, zumal seit das Ausscheiden Humboldt's, Boyen's und Beyme's aus
dem Staatsrath den Sieg der reactionären Ultras und die Wiederaufnahme
der Demagogenriecherei entschieden hat. Die Untersuchungen und Denun¬
ciationen gegen Jahr, Arndt und de Wette halten Alles, was für die Ehre
und den Credit Preußens ein Herz hat, beständig in Athem, Urtheile der
regulären Gerichtshöfe, Cabinetsordres, Ministerialverfügungen bald zu
Gunsten, bald zu Ungunsten der Angeklagten kreuzen einander unaufhörlich
und zeugen für-den Verfall und die Abhängigkeit der einst so hoch geprie¬
senen preußischen Justiz. Männer, deren Namen in der gesammten gebil¬
deten Welt nur mit Achtung genannt werden, sind Gegenstand ängstlicher
Beobachtung der berliner Polizei und werden von der herrschenden Presse in
unwürdigster Weise angefeindet und verlästert.

Wenn Schleiermacher das Voß'sche Schreiben gegen den Grafen Stoll¬
berg gelobt oder Sonntags eine kräftige Predigt gegen Heuchler und Licht¬
feinde gehalten hat. so stecken die Herren in den Ministerien und im königlichen
Empfangszimmer ängstlich die Köpfe zusammen und es ist von Beschlagnahme


Adel sieht in der Verfassungsfrage eine günstige Gelegenheit zur Wiederer¬
langung verlorener ständischer Prärogative, die märkische Ritterschaft bittet
den König direct, sich auf keine Konstitution einzulassen, der schlesische Adel
wünscht die Wiedereinführung der Erbunterthänigkeit. andere Verbände agi-
tiren für die Begründung besonderer Adelsschulen, Allen ist die Abneigung
gegen die Stein'schen Reformen, die französischen Einrichtungen am Rhein
und die constitutionellen Experimente in Süddeutschland gemein. Im Mili¬
tär führen die bürgerlichen Elemente aus der Gneisenau-Scharnhorst'schen
Schule einen erbitterten aber vergeblichen Kampf gegen die aristokratische
Partei, an deren Spitze der Herzog von Mecklenburg steht, in dem niederen
Volk bricht der Unmuth gegen die wiederkehrende Hoffahrt des säbelklirren¬
den Junkerthums bei jeder sich darbietenden Gelegenheit zu hellen Flammen
aus. Das scandaleuse Attentat des jungen Grafen Blücher gegen den
Schauspieler Stich, der „Wolfahrt'sche Handel", in den ein Fräulein von
Altrock verwickelt ist, Ladendiebstähle, auf welchen zwei adlige Damen er¬
tappt werden, führen zu Volksaufläufen, die trotz ihrer Geringfügigkeit die
öffentliche Meinung wochenlang beschäftigen und ängstigen. Wohl treten der
König und die Prinzen, unterstützt von einzelnen würdigen Veteranen, für
die Sache des Rechts ein, um der Zuchtlosigkeit der aufgeblähten jungen
Gardearistokraten zu steuern, aber die gesammte vornehme Gesellschaft stellt
sich auf die Seite der Privilegirten, „schleicht sich auf tausend Wegen in die
Nähe des Königs, der Prinzen und Minister und gewinnt im Voraus An¬
sehen, ehe noch die Dinge von den Staatsbehörden entschieden sind." — Im
gebildeten Mittelstande herrscht die tiefste Verbitterung gegen das herrschende
System, zumal seit das Ausscheiden Humboldt's, Boyen's und Beyme's aus
dem Staatsrath den Sieg der reactionären Ultras und die Wiederaufnahme
der Demagogenriecherei entschieden hat. Die Untersuchungen und Denun¬
ciationen gegen Jahr, Arndt und de Wette halten Alles, was für die Ehre
und den Credit Preußens ein Herz hat, beständig in Athem, Urtheile der
regulären Gerichtshöfe, Cabinetsordres, Ministerialverfügungen bald zu
Gunsten, bald zu Ungunsten der Angeklagten kreuzen einander unaufhörlich
und zeugen für-den Verfall und die Abhängigkeit der einst so hoch geprie¬
senen preußischen Justiz. Männer, deren Namen in der gesammten gebil¬
deten Welt nur mit Achtung genannt werden, sind Gegenstand ängstlicher
Beobachtung der berliner Polizei und werden von der herrschenden Presse in
unwürdigster Weise angefeindet und verlästert.

Wenn Schleiermacher das Voß'sche Schreiben gegen den Grafen Stoll¬
berg gelobt oder Sonntags eine kräftige Predigt gegen Heuchler und Licht¬
feinde gehalten hat. so stecken die Herren in den Ministerien und im königlichen
Empfangszimmer ängstlich die Köpfe zusammen und es ist von Beschlagnahme


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/132>, abgerufen am 05.02.2025.