Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.res und scheiden sich die Wege; der Staatsbürger, der die Möglichkeit direc- Was wir den "vormärzlichen" Liberalismus nennen möchten, ist typisch Varnhagen's Berichte beginnen mit dem Zeitpunkt seiner Zurückberufung res und scheiden sich die Wege; der Staatsbürger, der die Möglichkeit direc- Was wir den „vormärzlichen" Liberalismus nennen möchten, ist typisch Varnhagen's Berichte beginnen mit dem Zeitpunkt seiner Zurückberufung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0131" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287403"/> <p xml:id="ID_316" prev="#ID_315"> res und scheiden sich die Wege; der Staatsbürger, der die Möglichkeit direc-<lb/> ter Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten hat, darf nicht mehr<lb/> raisonnirender Beobachter bleiben und sich lediglich auf die Voraussetzungen<lb/> seiner eigenen Bildung, seiner subjectiven Wünsche und Anschauungen<lb/> steifen; Charakter und Beruf des Liberalismus haben sich verändert. Es hatte<lb/> darum einen gewissen Sinn, wenn die Ueberschwänglichkeit des Jahres 1848<lb/> zwischen „vormärzlichen" und zeitgemäßen Liberalen einen Unterschied machte,<lb/> nur nicht den Sinn, der dieser Unterscheidung von den Radikalen unterge¬<lb/> schoben wurde, die zu den Todten warfen, wer ihre Tollheiten nicht mitmachte.</p><lb/> <p xml:id="ID_317"> Was wir den „vormärzlichen" Liberalismus nennen möchten, ist typisch<lb/> in Varnhagen vertreten, ganz besonders in dem Varnhagen der „Tagebücher".<lb/> In den Jahren 1819 und 1823 erscheint diese Anschauungs-, Auffassungs¬<lb/> und Darstellungsweise natürlich und berechtigt; wir brauchen uns mit diesem<lb/> Zeitabschnitt nur eingehend zu beschäftigen, um unversehens in dieselbe tiefe<lb/> Verstimmung zu gerathen, welche aus jeder Seite der „Blätter zur preußi¬<lb/> schen Geschichte" redet und vollständig begreiflich zu finden, daß den Zustän¬<lb/> den des damaligen Preußen von einem Combattnnten von 1813 und 1813,<lb/> der zugleich gebildeter Staatsmann war, kaum eine Lichtseite abgewonnen<lb/> wurde. Und wenn ein gut Theil dessen, was die „Blätter" berichten, aus<lb/> Brocken besteht, die in den Vorzimmern des Königs, der Prinzen und der<lb/> Minister aufgeschnappt, aus Theater-on-ans und Wachtparade-Flüchen zusam¬<lb/> mengesetzt wurden, so läßt sich dagegen kaum Etwas einwenden. Was man<lb/> damals politisches Leben nannte, bewegte sich in der That zwischen dem<lb/> königlichen Ankleidezimmer und den öffentlichen Orten, an welchen das<lb/> Publicum diejenigen anzutreffen pflegte, welche die Leiter der Staatsgeschicke<lb/> waren.</p><lb/> <p xml:id="ID_318" next="#ID_319"> Varnhagen's Berichte beginnen mit dem Zeitpunkt seiner Zurückberufung<lb/> aus Baden und der erneuten Niederlassung in Berlin. Er sieht sich noch nicht<lb/> als definitiv aus dem Staatsdienst ausgeschieden an und beobachtet die Zeit¬<lb/> läufte wie ein Mann, der an den Wendungen, welche sie nehmen, direct mit<lb/> interessirt ist. Das große Interesse des Tages ist die Entscheidung über die<lb/> verheißene Constitution und die allendliche Zusammensetzung des in steten<lb/> Krisen und Schwankungen begriffenen Ministeriums. Die Stellung, welche<lb/> die verschiedenen Kreise und Schichten der Gesellschaft zur Verfassungsfrage<lb/> einnahmen, wird in zahlreichen Episoden und Anekdoten behandelt und das<lb/> Bild der Gesammtsituation setzt sich aus einer Fülle klarer Einzelvorgänge<lb/> zusammen. Wir erfahren genau, wie die einzelnen leitenden Persönlichkeiten<lb/> beurtheilt werden, wie sie selbst urtheilen und welche Kriterien hüben und<lb/> drüben den Maßstab bilden. Es ist, als läge eine ganze Reihe kleiner Par¬<lb/> teizeitungen vor uns, welche sich über alle brennenden Fragen äußern. Der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0131]
res und scheiden sich die Wege; der Staatsbürger, der die Möglichkeit direc-
ter Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten hat, darf nicht mehr
raisonnirender Beobachter bleiben und sich lediglich auf die Voraussetzungen
seiner eigenen Bildung, seiner subjectiven Wünsche und Anschauungen
steifen; Charakter und Beruf des Liberalismus haben sich verändert. Es hatte
darum einen gewissen Sinn, wenn die Ueberschwänglichkeit des Jahres 1848
zwischen „vormärzlichen" und zeitgemäßen Liberalen einen Unterschied machte,
nur nicht den Sinn, der dieser Unterscheidung von den Radikalen unterge¬
schoben wurde, die zu den Todten warfen, wer ihre Tollheiten nicht mitmachte.
Was wir den „vormärzlichen" Liberalismus nennen möchten, ist typisch
in Varnhagen vertreten, ganz besonders in dem Varnhagen der „Tagebücher".
In den Jahren 1819 und 1823 erscheint diese Anschauungs-, Auffassungs¬
und Darstellungsweise natürlich und berechtigt; wir brauchen uns mit diesem
Zeitabschnitt nur eingehend zu beschäftigen, um unversehens in dieselbe tiefe
Verstimmung zu gerathen, welche aus jeder Seite der „Blätter zur preußi¬
schen Geschichte" redet und vollständig begreiflich zu finden, daß den Zustän¬
den des damaligen Preußen von einem Combattnnten von 1813 und 1813,
der zugleich gebildeter Staatsmann war, kaum eine Lichtseite abgewonnen
wurde. Und wenn ein gut Theil dessen, was die „Blätter" berichten, aus
Brocken besteht, die in den Vorzimmern des Königs, der Prinzen und der
Minister aufgeschnappt, aus Theater-on-ans und Wachtparade-Flüchen zusam¬
mengesetzt wurden, so läßt sich dagegen kaum Etwas einwenden. Was man
damals politisches Leben nannte, bewegte sich in der That zwischen dem
königlichen Ankleidezimmer und den öffentlichen Orten, an welchen das
Publicum diejenigen anzutreffen pflegte, welche die Leiter der Staatsgeschicke
waren.
Varnhagen's Berichte beginnen mit dem Zeitpunkt seiner Zurückberufung
aus Baden und der erneuten Niederlassung in Berlin. Er sieht sich noch nicht
als definitiv aus dem Staatsdienst ausgeschieden an und beobachtet die Zeit¬
läufte wie ein Mann, der an den Wendungen, welche sie nehmen, direct mit
interessirt ist. Das große Interesse des Tages ist die Entscheidung über die
verheißene Constitution und die allendliche Zusammensetzung des in steten
Krisen und Schwankungen begriffenen Ministeriums. Die Stellung, welche
die verschiedenen Kreise und Schichten der Gesellschaft zur Verfassungsfrage
einnahmen, wird in zahlreichen Episoden und Anekdoten behandelt und das
Bild der Gesammtsituation setzt sich aus einer Fülle klarer Einzelvorgänge
zusammen. Wir erfahren genau, wie die einzelnen leitenden Persönlichkeiten
beurtheilt werden, wie sie selbst urtheilen und welche Kriterien hüben und
drüben den Maßstab bilden. Es ist, als läge eine ganze Reihe kleiner Par¬
teizeitungen vor uns, welche sich über alle brennenden Fragen äußern. Der
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