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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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der Hand haltend, flehte er die Soldaten im Namen der christlichen Liebe
an, in ihre Casernen zurückzukehren; er versprach im Namen des Kaisers, so
wie es vorher der Großfürst und Graf Miloradowitsch gethan hatten, allen
Verschwörern unbedingte Verzeihung, die Urheber der Empörung allein aus¬
genommen. Das Flehen des Metropoliten blieb aber vergeblich; man sagte
ihm: "Geh' nach Hause. Vater, bete da für uns. für Alle; hier hast Du
nichts zu suchen."

Ein Decembertag im hohen Norden währt nicht lange, gegen drei Uhr
begann es zu dunkeln; ohne Zweifel wäre in der Dämmerung das Volk, das
nur mit Gewalt auseinandergetrieben worden war, zu den Aufständischen
zurückgekehrt, aber man gab ihm keine Zeit mehr zur Ueberlegung. Graf
Toll soll es gewesen sein, der sich beim Beginn der Dunkelheit dem Kaiser
genähert und ihm gesagt hatte: "Sire! befehlen Sie, den Platz mit Kanonen
zu säubern, oder entsagen Sie dem Throne."--Der erste Kanonenschuß, blind
geladen, donnerte hervor; die zweite und die dritte Kanone schleuderten Kugeln,
die sich in die Mauer des Senatsgebäudes setzten oder über die Newa in
der Richtung zur Akademie der Künste hinüberflogen. Diesen Schüssen antwor-
teten die Aufständischen mit schallendem Hurrah! Dann wurden die Kanonen
mit Kartätschen geladen; Obrist Nesterowsky zielte gerade in das Quarre' --
der Kanonier bekreuzigte sich, dann commandirte der Kaiser selbst, und Capi-
tain M. Bakunin nahm die Lunte aus der Hand des Soldaten. Einen Augen¬
blick später hagelten Kartätschenkugeln in das dichte Quarre; die Aufrührer
flüchteten in.die Galeerenstraße und über die Newa zur Akademie; die Ka¬
nonen rollten zur Galeerenstraße und zum Newaufer und schleuderten von
hier Kartätschen, wodurch sich ganz zwecklos die Zahl der Getödteten,
Schuldigen und Unschuldigen, Soldaten und zufälligen Zuschauer ver-
dreisachte. Drei Seiten des Vierecks des moskauschen Regiments unter
M. Bestushew III. warfen sich zum Newauser und wurden von Kartätschen¬
kugeln begleitet. Auf der Newa wollte Bestushew die flüchtenden Soldaten
sammeln, da donnerten von der Jsaaksvrücke Kugeln her, welche das Eis des
Flusses zertrümmerten und vielen Soldaten ein feuchtes Grab bereiteten.
Ohne diesen Umstand hätte Bestushew sich noch der Peter-Pauls-Festung be¬
mächtigen können. Die Garde-Equipage, die Leibgrenadiere und ein Theil
des moskauschen Regiments warfen sich in die Galeerenstraße, wohin Ka¬
nonen folgten, welche im Defile viele Soldaten niederschössen.

Seltsam, ja wunderbar ist es, daß von meinen Unglücksgefährten, den
compromittirten Offizieren, Niemand erschossen oder verwundet wurde; meh.
reren derselben waren die Mäntel und Pelze von Kugeln durchbohrt; in dem
Bataillon der Garde-Equipage fielen ganze Reihen Soldaten, die Offiziere
blieben unversehrt. Alles ergriff in den beiden genannten Richtungen die


der Hand haltend, flehte er die Soldaten im Namen der christlichen Liebe
an, in ihre Casernen zurückzukehren; er versprach im Namen des Kaisers, so
wie es vorher der Großfürst und Graf Miloradowitsch gethan hatten, allen
Verschwörern unbedingte Verzeihung, die Urheber der Empörung allein aus¬
genommen. Das Flehen des Metropoliten blieb aber vergeblich; man sagte
ihm: „Geh' nach Hause. Vater, bete da für uns. für Alle; hier hast Du
nichts zu suchen."

Ein Decembertag im hohen Norden währt nicht lange, gegen drei Uhr
begann es zu dunkeln; ohne Zweifel wäre in der Dämmerung das Volk, das
nur mit Gewalt auseinandergetrieben worden war, zu den Aufständischen
zurückgekehrt, aber man gab ihm keine Zeit mehr zur Ueberlegung. Graf
Toll soll es gewesen sein, der sich beim Beginn der Dunkelheit dem Kaiser
genähert und ihm gesagt hatte: „Sire! befehlen Sie, den Platz mit Kanonen
zu säubern, oder entsagen Sie dem Throne."—Der erste Kanonenschuß, blind
geladen, donnerte hervor; die zweite und die dritte Kanone schleuderten Kugeln,
die sich in die Mauer des Senatsgebäudes setzten oder über die Newa in
der Richtung zur Akademie der Künste hinüberflogen. Diesen Schüssen antwor-
teten die Aufständischen mit schallendem Hurrah! Dann wurden die Kanonen
mit Kartätschen geladen; Obrist Nesterowsky zielte gerade in das Quarre' —
der Kanonier bekreuzigte sich, dann commandirte der Kaiser selbst, und Capi-
tain M. Bakunin nahm die Lunte aus der Hand des Soldaten. Einen Augen¬
blick später hagelten Kartätschenkugeln in das dichte Quarre; die Aufrührer
flüchteten in.die Galeerenstraße und über die Newa zur Akademie; die Ka¬
nonen rollten zur Galeerenstraße und zum Newaufer und schleuderten von
hier Kartätschen, wodurch sich ganz zwecklos die Zahl der Getödteten,
Schuldigen und Unschuldigen, Soldaten und zufälligen Zuschauer ver-
dreisachte. Drei Seiten des Vierecks des moskauschen Regiments unter
M. Bestushew III. warfen sich zum Newauser und wurden von Kartätschen¬
kugeln begleitet. Auf der Newa wollte Bestushew die flüchtenden Soldaten
sammeln, da donnerten von der Jsaaksvrücke Kugeln her, welche das Eis des
Flusses zertrümmerten und vielen Soldaten ein feuchtes Grab bereiteten.
Ohne diesen Umstand hätte Bestushew sich noch der Peter-Pauls-Festung be¬
mächtigen können. Die Garde-Equipage, die Leibgrenadiere und ein Theil
des moskauschen Regiments warfen sich in die Galeerenstraße, wohin Ka¬
nonen folgten, welche im Defile viele Soldaten niederschössen.

Seltsam, ja wunderbar ist es, daß von meinen Unglücksgefährten, den
compromittirten Offizieren, Niemand erschossen oder verwundet wurde; meh.
reren derselben waren die Mäntel und Pelze von Kugeln durchbohrt; in dem
Bataillon der Garde-Equipage fielen ganze Reihen Soldaten, die Offiziere
blieben unversehrt. Alles ergriff in den beiden genannten Richtungen die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/126>, abgerufen am 05.02.2025.